Lothar Köster, 17. September 2023
Irgendwie regelbedürftig
Im Herbst werden unsere Wanderstrecken durch das Berliner Umland deutlich kürzer, denn dann sehen wir nach Pilzen. Ein Elch könnte quer im Weg stehen, wir würden unter ihm hindurch unbeirrt durch das Moos suchen. Wandern entspannt, Pilzsuche aber ist die optimale Meditationspraxis: Stundenlang durch die ödesten Kiefernwälder schleichen und das Moos nach unseren Favoriten absuchen, die Varianen von Steinpilz, Pfifferling, Marone vor dem inneren Auge, und damit eben nichts als SUCHEN. Mustersuche, wie diese dämliche KI, die Millionen von Webvorlagen nach den angefragten 'Pilzen' durchwühlt und uns die Chimären zusammenklebt, die wir uns gewünscht haben.
Wenn der Wald voller Pilze steht, ist es bloß gieriges Auswählen und Einsammeln, mit furchtbaren Folgen für die Abendstunden in der Küche.
Wenn wegen wochenlanger Trockenheit kein einziger Pilz zu sehen ist, schalten wir bald schulterzuckend in den Wandermodus.
Das Suchen findet in den Zwischenstadien statt. Wenn wir im zweiten Kilometer am Wegrand den ersten Steinpilz entdecken, verwandeln wir uns schlagartig in Trüffelhunde. Wenn wir dann eine Stunde lang nur Spinnweben von der Nase ziehen und der Beutel fast leer gähnt, entsteht in uns eine seltsame Sehnsucht, eine bedenkliche Erweiterung der Suche: Wann und wo würden wir welche Exemplare finden? Ist es die Farbe des Mooses? Die Nähe zum See? Unter Buchen, Eichen, Kiefern, Fichten? ('Hexen stehen immer unter Birken!' Mörs) Ist der Wald zu dicht, zu dünn, zu alt, zu jung? Wenn wir allzu lange keinen Pilz in den Beutel geschoben haben, suchen wir ersatzweise nach Regeln. Sie sollen uns zu den seltenen Exemplaren und ihren geheimen Plätzen leiten. Sie sollen uns aus der Mühe befreien, den ganzen Wald absuchen zu müssen. Wüßte man nur ein, zwei Regeln, so könnte man zum richtigen Ort gehen und so viel schneller den Beutel füllen.
Per Aspera ad Astra! Durch dem Aufstieg das Gipfelglück! (die betrogenen Seilbahnfahrer) Suchen ist Arbeit, und die kann leicht getan oder unerträglich schwer werden.
Sie kennen das! Besucher werden durch die Tropfsteinhöhle geführt, und der Führer erklärt die Formen der Stalaktiten und Stalagmiten: Der ' Elefant', die 'Orgelpfeifen', eine 'Kaffeekanne', gerne etwas Anzügliches... Aber niemals darf der im 50.000 Jahre-Zeitraum gewachsene Kalkstein befremdlich, bizarr, phantastisch sein, das alltäglich Vorstellbare übersteigen! (Ein Trauma der Höhlenführer? Wohl nicht, Führer kleben ihren Gefolgschaften an den Lippen.)
Auch die Bemühung um Verstehen und Erklärung ist eine Suche unter Mühen. Wer in den Wald der Geschichte und in die Höhle der Ungerechtigkeiten geht, unterzieht sich der Arbeit des Deutens. Mancher geht eine kurze Strecke, mancher eine lange Strecke. Jeder hat seine aktuelle Grenze, an der er kopfschüttelnd abbricht und sich auf die gewonnenen Erkenntnisse beschränkt. Mancher ist dann, gerade bei recht leerem 'Pilzbeutel', schnell bereit, die wohlklingenden Angebote an einfachen Regelwerken und simplen Heilslehren zu akzeptieren, um aus der Anstrengung der Suche zu entfliehen. Er ist sozusagen bereit, die teuer erworbene Pilz-Finden-App zu starten.
Seit den Ursprüngen von Gewaltherrschaft sind Heilslehren mit einfachen Lebensregeln ein profitables Gewerbe. Die Kultur der Untertänigkeit, das bereitwillige Ergeben in die Erklärungen der Herren, sind dabei die prominenteste Version, quasi marktbeherrschend.
Es wundert nicht, das im sozialen Kiefernwald unserer Kapital-Regime hinter jedem Baum ein Anbieter mit seinem Bauchladen steht und einfache Wahrheiten verkauft. Daß einfache Regelwerke instabile Gesellschaften wie Pestzüge heimsuchen können, ist uns nunmehr allzu schmerzlich bekannt. Trotzdem gehen Gender-Mantren, Bierdeckel-Suren und völkische Psalmen wie Grippewellen durchs Land.
Auch dieses Problemfeld könnten wir mit dem alten, praktischen Trick der Vermenschlichung lösen: Lassen wir niemanden allein im Wald suchen. Sammeln wir unsere Erkenntnisse in freundlichen Gruppen, groß genug für belebende Vielfalt, klein genug für vertrauensschaffende Transparenz.
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Wenn die Regeln veröffentlicht werden, nach denen man zuverlässig alle Pilze finden kann, gehe ich nicht mehr in den Wald. (Er wäre mir auch zu gefährlich, der Wettlauf um den ersten Steinpilz.)