Lothar Köster, 2. November 2024

irgendwie aufgeklärt

Wir im Westen sind erstaunlich aufgeklärt. Das beste Beispiel ist die Schulmedizin, von der wir in der Schule lernen, daß sie nur wissenschaftlich begründete Maßnahmen ergreift und deshalb so gesund ist.

Der Patient berichtet die Symptome seines Leidens, der Arzt deduziert daraus eine Diagnose, verifiziert sie mit Laborwerten und bestimmt danach die Therapie, in der Regel Schmerzmittel oder Antibiotika.

Und da sind noch die aufgeklärten Patienten zu erwähnen, die kritisch und selbstbestimmt an diesem Prozeß präziser Gesundung teilhaben. Mit Besprechen und Wunderpillen kann man denen nicht kommen.

Soweit die Schulfibel. Später im Leben bekam ich Symptome, ziemlich chronisch, ziemlich störend. Ich erinnerte mich an meine Krankenkassenbeiträge und ging zum Internisten, denn es war eindeutig der Darm. Der wollte nichts riskieren und warf ein dichtes Netz von Laboruntersuchungen über meinen Körper, die er mit flinken Fingern auf einem Schein ankreuzte. Beim Folgetermin kam er aus der Nachbarzelle, warf einen kurzen Blick auf die vielen Laborscheine und schüttelte den Kopf. Alles normal, sicher psychisch, wollen Sie Schmerzmittel? Der nächste Patient wartete bereits.

Beim achten Internisten habe ich übrigens aufgegeben. Manche wollten auch Stuhlproben sehen und probierten neue Medikamente an mir aus. Aber keine Besprechung dauerte länger als zehn Minuten, dann wurde das Diagnosefenster pünktlich geschlossen. Dies ist vermutlich die übliche Taktung in der Praxismaschine, einfach zu synchronisieren, optimal abzurechnen.

Und weiter? Als ich aus Verzweiflung nur noch mageres Weizenbrot zu mir nahm, las ich zufällig einen wissenschaftlichen Artikel über die seit der Antike bekannte Zöliakie, auf Deutsch Gluten-Unverträglichkeit. Ich negierte spaßeshalber meine Weizendiät und habe sofort eine ganze lange Nacht schmerzfrei geschlafen. Eine schmerzhafte Gegenprobe mit Roggenbrötchen (Ausschluß von Weizenallergie), und meine Diagnose war wasserdicht. Schulmedizin, geht doch!

Aber dann wurde es gespenstisch.

Natürlich traf ich Leidensgenossen, selten ist die Zöliakie nicht. Aber immer, wenn ich fröhlich meine Entdeckungsgeschichte erzähle, verfinstern sich die Gesichter gegenüber ins Ernsthafte, Besorgte. Sie legen dann oft eine Hand auf meine Schulter (Mitleid? Pädagogik?), senken die Stimme und ermahnen mich, die Sache ernster zu nehmen und unbedingt (hörst Du, UNBEDINGT!) von einem Arzt feststellen zu lassen. Das sei relativ einfach, ich müsse keine Angst haben...

Wissen Sie als Glutengenießer, was das konkret heißt, dieses 'von einem Arzt feststellen lassen'? Ich bin in Gesundheitsangelegenheiten gründlich und weiß es natürlich sehr genau, zumal man es überall nachlesen kann:

Zuerst wird eine Blutuntersuchung durchgeführt. Dabei werden verschiedene Antikörper-Konzentrationen bestimmt, die in der Summe einen Hinweis auf Zöliakie geben können. Können, denn von Sicherheit (positiv wie negativ!) kann hier keine Rede sein.

Und bei Verdachtsindizien kommt der nächste Arzt ins Spiel. Er ist ein Gastroenterologe, und die 'Feststellung' besteht in einer Seitenaktion einer regulären Magenspiegelung. Es werden Gewebeproben vom obersten Darmansatz abgezwickt und später im Labor untersucht.

Aha, und dann weiß man das endlich ganz genau?

Nein. Nach langer unerkannter Krankheit könnte man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Folgen einer Schädigung erkennen, mehr oder weniger sicher. Hinweise, Indizien, auch hier keine Gewißheit.

Habe ich erwähnt, daß der Delinquent vorab mindestens zwei Wochen Weizenprodukte in sich hineinstopfen und die Unverträglichkeit bis zum Anschlag hochtreiben muß?

Ich soll zwei Wochen mit brennendem Darm und schlaflosen Nächten zubringen für eine vage Indizienlage?

Natürlich, denn für die Ärzte und Labore ist diese hochnotpeinliche Diagnostik die reine Goldgrube. Die Magenspiegelung zum Beispiel bringt der Praxis gute 500,-€ das Stück. Deshalb sind diese Praxen auch Fließbandbetriebe mit 10-Minuten-Taktung. Keine ärztliche Kunst, der Schlauch wir dem Patienten mit einem Motorgetriebe in den Hals gefahren, Foto, Probe, zack, der Nächste bitte. Für solche Extremprofite würde man den Patienten jede Lüge auftischen. Also: 'Sie müssen das unbedingt von eine $Facharzt$ klären lassen!'

Diese Extremform von Menschenausbeutung hat immerhin eine beruhigend rationale Basis.

Aber die Patienten?

Jeder Zöliakist macht bei jeder Kontamination die direkte schmerzliche Erfahrung, und mit der Null-Gluten-Diäte sofort die positive. Das ist so massiv empirisch, daß man einen 'Brötchentest' als 100% sicheren Nachweis gelten lassen kann. Wer könnte also auf die dümmliche Versprechung der Ärzte hereinfallen, wenn das oben genannte allgemein bekannt ist?

Das ist es, was mir Angst macht. Diese vielen Patienten, welche die extreme Evidenz ihrer persönlichen Schmerzerfahrung völlig ignorieren, wochenlang ihr bekanntes Gift in sich hineinstopfen, weil so ein Weißkittel mit Dollaraugen ihnen säuselnd rät, das 'von der Schulmedizin abklären zu lassen'. Untertänigkeit ist ja deutsches Genom, aber eine solche verstandlose Leidensbereitschaft für bekanntermaßen nüscht ist bis ins Extrem beänstigend. Es ist die Irrationalität im pathologischen Extrem. Jedes 'Wundenbesprechen' und 'Schmerzen wegpendeln' ist mit Abstand rationaler! Solche Leute glauben auch, daß Mietzinserpressung das Wohnen billiger macht und Opernhäuser erst im Besitz einer Bank künstlerisch wertvoll geführt werden.

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Übrigens gibt es nun einen Zöliakie-Set für den Selbsttest zu kaufen, natürlich richtig teuer und mit extrem ungenauer Diagnose. Und nun raten Sie mal, was die Voraussetzung für die Anwendung dieses hübschen Vielleicht-Vielleicht-Tests ist? Genau, mindestens zwei Wochen lang...