Lothar Köster, 31. Oktober 2024

irgendwie zornzyklisch

Jemand geht auf vertrautem Bürgersteig heim und freut sich über das viele bunte Laub und den strahlend blauen Himmel. Dann rast ein halbwüchsiger Elektrodebiler hart an ihm vorbei. Keine Entschuldigung, dafür wütende Beschimpfungen, Drohungen und Flucht.

Der Jemand ist unverletzt davongekommen, aber um seine gute Laune gebracht, verärgert. Warum? Weil er voll Scham feststellen muß, daß er innerlich gegen diesen dumm brüllenden Knaben zurückbrüllen will. Gegen seinen Willen. Gegen seine Art und Gewohnheit, trotz seiner eigenen Mißbilligung. Physisch unversehrt, ist er innerlich verletzt und verwandelt worden.

Der Kern des Gewaltaktes ist die Verletzung des zwischenmenschlichen Vertrauens. Darauf ist man nicht vorbereitet. Man will es nicht sein. Dieses Vertrauen macht uns zu Menschen.

Das schlimmste Leid, das dem überlebenden Opfer durch die Gewalt zugefügt wird, ist diese Zerstörung des menschlichen Kerns, mal Vertrauen genannt, mal Liebe, mal Frieden. Es braucht Jahrhunderte vertrauensvoller Zusammenarbeit und freundlichen Zusammenlebens, um diesen menschlichen Frieden, diese friedliche Menschlichkeit aufzubauen. Aber sie ist labil und kann in einem Augenblick der Gewalt zerstört werden. Die Gewalttat des Täters prägt dem Opfer sein Spiegelbild ein. Der Fluch der Tatverschwägerung zwingt Tätern und Opfern eine Verwandtschaft und Angleichung auf. Der Begriff der Vergewaltigung ist doppeldeutig und doppelt wahr. Fast erinnert dies an das Weitertragen einer Infektion.

Es gibt noch mutige Dokumentationen. Eine zeigte mir Ausschnitte eines der prahlerisch veröffentlichen Videos von Hamas-Soldaten, die in ein Siedlerhaus nahe Gaza eindrangen. Die Kopf-Kamera zeigte stets die vorgehaltenen Waffen, den Blick der Agierenden, aber nicht ihre Gesichter. Sie waren nicht stumm, sie warfen sich gegenseitig Rufe des Zorns zu, Bestätigungen ihrer momentanen Macht, der sie spürbar noch nicht trauten. Mit leichtem Zögern traten sie Türen ein. Unsicher betraten sie Räume und betrachteten mit kurzen Blicken das Inventar, um gelegentlich das eine oder andere zu zerschlagen, das sie gerne einmal in dieser Friedlichkeit besessen hätten. Sie entdeckten bald den geschlossenen Raum, in dem Einwohner Zuflucht gesucht hatten, und riefen sich dies gegenseitig zu, bis einer sich entschloß, das Öffnen der Tür zu fordern. Erst nach langen Ritualen des Anrufens trauten sie der Macht ihrer Gewaltmaschinen in den Händen. Einer schoß in die Tür. Die Familie öffnete und ergab sich. Als sie später die Leiche der dabei getöteten Tochter in den Armen des Vaters sahen, konnte der Prophet nicht oft genug angerufen werden. Die herumschweifende, ausweichende Führung der Kopfkamera verriet, daß sie vor sich erkannt hatten, was sie hinter sich hatten. Nach langem Herumfuchteln wurden die Geiseln in die Autos getrieben, mit unablässigen, panikhaften Beschwörungen ihrer momentanen Macht.

Ich erinnere genau: Als ich die vor Todesfurcht paralysierte Familie vor den Gewehrläufen auf dem Boden hocken sah, sah ich Menschenopfer, Opfermenschen. Ich saß ohnmächtig bei ihnen. Waren sie jetzt Israelis oder Palästinenser? Die Bilder und Berichte der durch palästinensische Wohnstuben marodierenden Israelis waren hiervon nicht mehr zu trennen. Ich sah Vietnamesen, Chilenen, Uiguren, Kurden, ukrainische Bauern, russische Bauern, die jüdische Kleinhändlerfamilie aus Nürnberg.

Was hatten die unsicher um Sieg brüllenden Hamas-Knaben, diese palästinensischen Taliban, nach blutiger Nacht erreicht, als sie die Geißeln irgendwo in Gaza aus den Autos zerrten? Aus dem relativen Frieden meines Sofas heraus erkannte ich mit Entsetzen, daß ihr maximaler Sieg in ihrem kurzen zornigen Leben nur dies war: Für diesen einen Tag waren sie, unter Furcht und Zittern, zum ebenbürtigen Spiegelbild ihrer israelischen Besatzern abgesunken. All diese Hoffnungen auf ein freies Leben, in blasser Erinnerung früherer Zeiten, die sie mit ihren erschlagenen Geschwistern und Freunden geteilt hatten, mündeten nun in dem schlimmsten Unheil, das den überlebenden Opfern von Gewalttaten zustoßen kann: Täteropfer wurden Opfertäter.

Um eine Umdrehung sei das blutige Hamsterrades zurückgedreht: Die große, unstillbare Sehnsucht der in aller Welt versprengten Juden war stets die vage Vision der Rückkehr in eine sichere, friedliche Heimat. Nach jahrhundertelanger Verfolgung durch Wahn und Fremdenfurcht schreiten die Opfer zur Tat und beschaffen sich ein gelobtes Land. Einhundert Jahre später, nach einem Rausch von gerechtem Opferzorn, sitzen sie blutverschmiert und waffenstarrend auf einem Friedhof und wollen sich nicht eingestehen, welchen Fluch, welch Spiegelbild ihnen die Täter aufgezwungen haben.

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Ihr überlebenden Palästinenser, Opfer dieser Opfer Zorn, bewahrt Euch eure Menschlichkeit und schlagt das blutschreiende Erbe aus. Nehmt nicht dieses Spiegelbild der Täter an wie diese einst. Laßt diesen fluchbeladenen Spiegel erbleichen, so daß man hinter ihm wieder die Freundlichkeit von Menschen erkennen kann, die Menschen bleiben wollen.

Vererbt die Würde, nicht den Hass!
Wer Auge um Auge aussticht, ist dem Menschlichen abhanden gekommen.