Lothar Köster, 17. Januar 2021

irgendwie vergleichbar...

Es ist peinlich, aber auch nicht mehr. "Das ist Kindesmißbrauch!" Das Kind soll zur Oma statt zur Gameparty. Der Hilfeschrei in der vollbesetzten U-Bahn bewirkt nur Mitleidspunkte für die Eltern. In der Hoffnung auf magische Wirkung wurde das stärkste Wort gewählt. Aber Vergleiche sind rhetorisch diffizil, denn sie müssen mit Glaubwürdigkeit überzeugen. Zorn und starke Worte erwirken allzu oft nur peinliches Schulterzucken.

Eine 'Ich mag kein Corona'-Demo hat eine 11-Jährige auf die Bühne geworfen. Sie ist nicht nur irgendwie empört, sondern will richtig, richtig dicke empört sein. Ein starker Vergleich soll das richten, also ist ihre 'Geburtstagsfeier unter Quarantäne und mit leise sein' eben wie bei ... ANNE FRANK! Dicker ging nicht. Die Republik rollen mit den Augen und watschelt innerlich die Eltern, die ihrem Kind eine solch tragische Berühmtheit mit auf den Lebensweg gegeben haben.

Peinlich können nicht nur Kinder. Ein Herr Wendler krönt Corona-Meckerei mit "KZ-Deutschland???", mit Tastenrepetitionsrhethoik. Und in bestimmten Thekengemeinschaften dürfte dies normale, identitätsstiftende Phraseologie sein. ("Wer kann schlimmer?")

Der Anteil der Peinlichen und Überforderten in unserer Gesellschaft ist langfristig stabil. (...da helfen keine Pillen) Dauerempörung und Verbalheldentum kocht an jeder Theke hoch, vom Alkohol genährt und vom Alkohol wieder ertränkt. Erst seit billige Kameras darauf gehalten werden, erwachsen der Öffentlichkeit daraus Peinlichkeiten.

 

Interessant ist die Qualität der öffentlichen Reaktionen.

- Auf die arme 11-Jährige, die vermutlich ihren Eltern genügen wollte, hat die Polizei (empört!) den Staatsschutz und die Staatsanwaltschaft losgetwittert und konnte mit Mühe zurückgepfiffen werden. Dafür wurde von MdB Katja Mast eine neue Qualität von Antisemitismus angeprangert.

- Der Herr Wendler wurde vom hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker umgehend zum 'Shoah-Relativierer' erklärt.

Ich vergleiche gerne, in diesem Fall: Vergleiche.

A1:{Quarantäne und leise Feiern = Anne Frank}
Keine Ahnung von Corona und Anne Frank, aber von beiden schon mal irgendwas gehört. Gelten wollen mit gefühlt starken Worten.

A2:{11-Jährige/Familie = perfide Antisemitismus-Aktivisten}
Keine Zurkenntnisnahme der Einzelmenschen und Umstände, reflexhafte Erwartungserfüllung durch undifferenzierten Maximalvorwurf

B1:{Kontaktreduktion = KZ-Deutschland}
Keine Ahnung von Corona und Konzentrationslagern, aber ein Gefühl für provokante Worte. Erkennbar Angst, daß einem niemand zuhören mag.

B2:{abstiegsgefährdeter Schlagersänger = Shoah-Relativierer}
Keine Zurkenntnisnahme der Einzelmenschen und Umstände, reflexhafte Erwartungserfüllung durch undifferenzierten Einheitsvorwurf

Was ist den zwei Vergleichen von Vergleichen gemein:

In allen Fällen werden Maximalkeulen geschwungen. Die vier Vergleiche sind gleichermaßen in Extrem überzogen und daher nur peinlich. Es wurde auf die jeweils stärksten Worte zurückgegriffen. Alle vier Reaktionen klingen somit in all ihren denkbaren Wiederholungen gleich, weil es je keinerlei Differenzierungen gibt.

Was ist auffallend anders?

Schlichte Menschen sind von der Debatten-Kultur überfordert, so daß ihre Extremrhetorik vollständig vorhersagbar ist. (Da es mittlerweile in den Digital-Medien mehr Sender als Empfänger gibt, kann man sich die Produzenten nicht mehr aussuchen.)

Warum aber hören wir auch von Polizeisprechern, Abgeordneten und insbesondere Antisemitismusbeauftragten immer nur undifferenzierte Maximalverdächtigungen?

Warum ist das lange eingeforderte 'Wehret den Anfängen' nun zu einer blinden, kontextfreien Wörterfahndung als Pawlowschem Reflex verkommen?

Dabei geht es schon lange nicht mehr um die medialverbalen Entgleisungen von Narren. Renommierte Schriftstellerinnen, Philosophen, Künsterinnen, Kabarettisten sowieso, alle werden verdammt in alle Ewigkeit, wenn sie sich den A-/K-/F-/N(...)Wörtern auch nur nähern.

 

In den 50-60er Jahren unserer Republik (nicht nur West!) war es recht gefährlich, über Faschismus, Auschwitz und die verschwundenen jüdischen Nachbarn zu reden. Jetzt aber haben wir unsere Vergangenheit doch ordentlich aufgearbeitet, oder? Da sollte es doch entspannte Debatten mit historischer Distanz noch und noch geben?! Man muß sich das Offensichtliche auch deutlich eingestehen: Von Entspannung keine Spur. Das erstarrte Schweigen ist einem kanonischen Korrektreden gewichen, das letztlich nur laut tönende Tabuverwaltung ist. Fragwürdige Wahrheitsverwalter erlassen zulässige Parolen, die wir auf unsere Transparente und in unsere Reden übernehmen. Jede Abweichung, jede Nachlässigkeit ist gleich Verkehr mit den beiden Teufeln selbst: Antisemitismus! Holocaust-Leugnung! Krampf und Schnappatem, Selbstzensur und Angstapplaus. Wer nicht schnell nickt, ist sofort verdächtig. Grübeln, Rückfragen, Differenzieren beendet Karrieren, das Urteil ergeht per Schlagzeile.

 

Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß speziell das Vergleichen selbst von den Dogmaverwaltern zum Delikt erhoben wird. Hier wird die Sache mit der bewältigten Vergangenheit richtig fadenscheinig. Walter Rathenau sagte: "Denken heißt Vergleichen." Ich habe diese Aussage lange unterschätzt. Aber alle historischen Phänomene können nur durch Vergleiche qualifiziert beschrieben werden. Um es zuzuspitzen: Die Behauptung 'Der Holocaust ist mit nichts vergleichbar!' könnte nur durch umfängliche, sorgfältige und detaillierte Vergleiche belegt werden. Sie ahnen es!

Natürlich ist der Holocaust einzigartig, denn das gilt für alle historischen Ereignisse, auch für Hiroshima, die deutsche Wiedervereinigung, My Lai, Sabra-Shatila, die Nelkenrevolution.

Will man aber wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht völlig verbieten, muß man den Historiker ihr einziges Instrument der Systematisierung uneingeschränkt überlassen: Das Vergleichen der Abfolgen, der Einflüsse, der Motive, der Entscheidungsstrukturen, der Details und der Muster, der Kräfte und Kausalitäten. Diese 'Relativierung' im Vergleichen ist für Historiker und jeden anderen denkmutigen Menschen der Kern jeglicher Weltaneignung und Geschichtsbewältigung.

 

Das Dogma der Unvergleichbarkeit des Holocaust ist eine alt vertraute Abspaltungsstrategie: Die wie in einem Schwarzen Loch isolierte Singularität des Bösen befreit uns hier und jetzt von der belastenden Pflicht, über damalige und auch heute mögliche Verstrickungen in kollektive Verbrechen nachzudenken. Das ist sehr bequem. Das ist sehr gefährlich. Wenn ich nicht vergleichen darf, habe ich keine Chance, dem nächsten totalitären Kollaps rechtzeitig auf die Schliche zu kommen.

Das Vergleichs-Tabu ist faktisch das größte Hemmnis für eine Bewältigung, d.h. bewußte und kritische Kenntnisnahme des NS-Faschismus inklusive Holocaust, der uns immer noch irgendwie in den sozialen Knochen steckt und im Dunkeln nachwirkt.

Das Tabuisieren ist aber sehr bequem für all diejenigen, die einer Debatte dieser Komplexität nicht gewachsen sind. Leider sind dies all zu oft auch die Moralwächter der Parteienoligarchie und der von ihnen benannten Antisemitismusbeauftragten.

Das Tabu nährt auch die Narren. Sie können wie die kleinen Buben auf's peinlichste provozieren, gerade weil sie durch die panischen Verurteilungsreflexe nie in die Verlegenheit kommen, ihren Unsinn erklären zu müssen und dabei ihre Dummheit offenzulegen.

Vom Bühnenlicht der Tabukultur ernähren sich alle Populisten und Neonazis über Jahrzehnte bestens. Nur so kommt man jederzeit ohne Kosten in alle Schlagzeilen.

 

Berechtigte Frage: Wie sollte man denn sonst auf diese Provokationsvergleiche reagieren?

Den Narren sollte man ins Gesicht sagen, daß sie für unsere Debatten zu dumm sind. Nicht mehr.

Für die Provokateure schaltet man nicht den Scheinwerfer der Empörung ein. Entspanntes Understatement.

Und zur Vorbeugung und Stärkung der Debattenkultur empfehle ich einen allgemein verbindlichen Wettbewerb in den Schulen:

"Vergleicht den Holocaust mit einem historischen Ereignis Eurer Wahl. Seid auf Rückfragen und Kritik der Klasse gut vorbereitet."

Schriftlich, geschickte Rahmenbedingungen, lange Recherchezeiten und explizit keine Tabus.

Jede Klasse, Schule, Bezirk, Land, Bund, eben ein umfassender Wettbewerb.

Nach einem Jahrzehnt hat man eine Generation ins Leben entlassen,
- die sich intensiv und in vielen Details mit dunklen Geschichtskapiteln (nicht nur deutschen!) auseinander gesetzt hat,
- die geschickt und sachkundig das Vergleichen und seine Fallstricke beherrscht,
- sehr gelassen jede Provokation an sich abgleiten läßt und
- die peinliche Bloßstellungen durch Wortprotzerei kennen und meiden.

Und die besten von ihnen liefern uns ein hochwertiges Geschichtswerk.

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Entscheidungsfrage! Was ist Ihnen lieber?

- Landesweit breite und fundierte Kenntnisse der eigenen Geschichte
oder
- Landesweit Debattenverbot unter Diktat fragwürdiger Wahrheitsverwalter?

Entscheiden Sie durch VERGLEICH!