Lothar Köster, 21. Juli 2022

Irgendwie unbestreitbar

Irgendwie habe ich mir diesen Reflex aus der Kindheit gerettet: Wenn wir jemand etwas verbietet, wird meine Interesse geweckt. Wenn mir jemand das Denken verbietet, kann ich an nichts anderes mehr denken, bis die Zusammenhänge und Interessen offenliegen.

Ein mir unbekannter Blockwart hat auf der documenta fifteen ein ziemlich komplexes Bild in Augenschein genommen. ("poeple's justice" vom indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi)

Das Urteil

Von komplexen Zusammenhängen überfordert, hat er sich auf die Erbsen in der Suppe konzentriert und, vermutlich mit einem Fernglas, zwei winzige Details ausgemacht hat, die er sofort für unwiderlegbar §ANTISEMITISCH ausgerufen hat. Das Urteil verbreitete sich im empörungsgierigen Thekennetzwerk wie ein kalifornisches Sturmfeuer, stets zu schnell, um Denken und Rückfragen zuzulassen. Die Medien schrieben ab, die Parteipolitiker gossen Öl.

Das so geformte Volksempfinden bestimmte, daß das gesamte Bild und das gesamte Künsterkollektiv §ANTISEMITISCH sind. Damit sei natürlich auch die documenta fifteen in Gänze unwiderlegbar §ANTISEMITISCH. (Kassel wird noch untersucht...)

Um zu verhindern, daß sich die Documenta-Besucher eine eigene Meinung bilden können, wurde die Verhängung und die Entfernung in Eile erzwungen.

Glücklicherweise haben einige Zeitzeugen mit ihren Volksempfängern wenigstens Fragmente des Kunstwerks im Raunen des großen Netzes überleben lassen.

Diese habe ich also aus oben geschildertem Reflex heraus zusammengesucht (leider in schlechter Auflösung, Preis der Zensur) und mir sehr genau angesehen. Kein Kunstwerk wird so genau interpretiert wie ein verbotenes! (Verkannte Künstler, verwerft den Gedanken sofort, der Preis ist zu hoch!)

Das Bild

Was habe ich also gesehen?

Vom Stil ist es ein großformatiges, sehr komplexes Strukturbild einer konkreten Gesellschaft in konkreter Zeit. Comic-hafte Symbolfiguren präsentieren in ihrer Aufstellung verdichtet die Macht- und Beziehungsgeflechte Indonesiens unter dem Suharto-Regime. Es ist keine Kollage, in der assoziativ gruppiert und dem Betrachter die Findung der Zusammenhänge überlassen wird. Jede Figur ist hier durch ihre Mitwirkung im Ganzen definiert und positioniert.

Vom Aufbau ist es streng durchgestaltet in der Form eines Renaissance-Triptychon:

Links die Hölle einer kapitalistischen Diktatur auf einem Leichenfeld, rechts das aufbegehrende Volk, das Gerechtigkeit fordert, mittig eine Stele mit grau in grau verschmelzenden Folterszenen, für die Opfer eben kein Fegefeuer (,denn das kennt Hoffnung), und über das Geschehen gestellt eine Gerichtsverhandlung des Volkes über die nun gefangenen Täter, jene stilisiert mit Tierköpfen.

Der Anlaß

Warum malt das Künstlerkollektiv aus Indonesien keine Traumstrände? Die gibt es dort doch reichlich! Hier sollte der Kunsthallen-sozialisierte Bildungsbürger in Klausur gehen. Auch Traumstrandländer haben eine Geschichte, in der Regel von postkolonialen Diktaturen und den Raubinteressen der Großmächte gezeichnet. Nach der kolonialen Ausraubung durch die niederländische Ost-Indien-Kompanie wurde unter Sukarno 1949 nach blutigen Kriegen die Unabhängigkeit erkämpft. Folglich gab es einen starken Einfluß der Kommunisten und eine eher liberale Politik Sukarnos, die den Macht- und Blockinteressen der Briten und der USA entgegenstanden. Also bauten sie mit zeittypischer Diplomatie, also Geheimdiensten und Waffenlieferungen, den General Suharto gegen ihn auf. Aus gefälligem Anlaß ließ der generalstabsmäßig ganze Bevölkerungsteile als linksverdächtig ermorden, mit lange vorbereiteten Listenwerken und geschulten Spezialeinheiten. 300.000 bis 700.000 Mordopfer erfordern eine fast industrielle Logistik. (Womit könnte man das vergleichen?) Von diesem Schlachten und dem folgenden Terrorregime handelt das Kunstwerk.

Die Erbsen der Gerechten

Alles das darf natürlich sofort vergessen werden, wenn jemand in einer von hunderten Figuren ein §ANTISEMITISCHes Muster erkannt haben will. Aber was ist denn dort erkannt worden?

Jetzt betrachte ich einmal die beiden Details genauer, über die das Schlagzeilengericht sein Urteil gefällt hat.

(1) Eine graublau uniformierte Sondereinheit mit Kampfpilot-Helmen marschiert in einer Reihe an einem Systemrepräsentanten vorbei. Auf den Helmen findet man bekannt Kürzel: '007', 'KGB', 'MI5', 'Marin' wohl für CIA, und eben auch 'Mossad'.

(2) Ein sichtlich triumphierender Fabrikbesitzer, brauner Anzug, Zigarre quer im Mund, Melone auf dem Kopf, realisiert die Kapitalisten-Ikonographie. Die überspitzen Zähne werden im Umfeld auch anderen Gierfiguren vergeben. Deutliche schwarze Strähnen zitieren zugleich das Bild des orthodoxen Juden, die Ikone des radikalisierten Israel. Auf seiner Melone prangen SS-Runen.

Die Täter

Die Bewertung von (1) ist klar, wie durch zwischenzeitlich veröffentlichte mindergeheime Mossad-Akten belegt wird. Der Mossad-Geheimdienst hatte (und hat) u.a. die Aufgabe, in der ganzen Welt mit allen nur denkbaren Regimen verdeckte Geschäfte einzufädeln, gerne Waffen. Dem blutigen Suharto-Regime hat er zu massivem Handel auch von Embargo-Produkten mit israelischen Unternehmen verholfen. Die vorgefundene Darstellung der Täter ist also, im Gegensatz zu deren Taten, in keine Weise zu beanstanden.

Die Profiteure

Das Unwiderlegbare Urteil über (2) wurde begründet mit einer scheinbar zwingenden Herleitung: Ein Jude wird mit schlechten Zähnen und SS-Runen dargestellt, das kann nur §ANTISEMITISMUS sein.

Zum Begriff: Antisemitismus ist wie der Rassismus eine Variante der irrationalen Fremdenfeindlichkeit: Eine Menschengruppe wird durch unbegründetes Pauschalurteil herabgewürdigt. Die 'Nicht-Weißen' aller Herkunft in den USA und Europa, die Palästinenser in Palästina, die Sinti und Roma wie auch die Juden wieder einmal in ganz Europa. Feinheiten und fallspezifische Historien wären zu diskutieren. Aber: Wenn man z.B. das Verbrechen der Mietzinserpressung durch einen Wohnrauminvestor anprangert, kann der ob seiner Herkunft aus z.B. Indien keinen Rassismus zur Abwehr geltend machen. Das Urteil begründet sich überprüfbar in seiner Tat. Gruppenressentiments sind angstgetrieben und erklärungsfeindlich, aggressiv irrational. Sie sind also das absolute Gegenteil einer begründeten Kritik, z.B. an begangenen Verbrechen.

Keine Figur in dem Komplexbild steht an ihrer Position ohne direkten Bezug zu ihrer Verstrickung mit dem Suharto-Regime. Alle repräsentieren blutige Taten. Dazu zählen auch die z.T. verdeckten Geschäfte mit israelischen Unternehmen. Das §ANTISEMITISMUS-Abwehr-Geschrei hat also mehr als nur ein 'Geschmäckle'.

Gegenfrage: Wie soll ein israelischer Unternehmer, der über Blutregime glänzende Profite einfährt, anders dargestellt werden? Als blond-blauäugiger Dagobert mit einem Schild: 'Irgendwo zwischen Rom und Mekka tätig'? Kapitalistische Ausbeutung ist überall ein Verbrechen, Blutgeschäfte sind die konsequente Steigerung. Dafür, daß der israelische Filz aus Regierung, Geheimdienst und Waffenindustrie weltweit Diktaturen beliefert, kommt er mit dieser kleine Zitatfigur erstaunlich gut weg.

Die SS-Runen scheinen symbolisch deplatziert, aber sie erinnern an die strahlenden Krupps und Flicks mit ihren geputzten SS-Ehrenabzeichen auf den 'unser-Hitler-ist-zu-Besuch'-Fotos. Sie erinnern auch an die Skrupel- und Bedenkenlosigkeit, mit der seit den 1950er Jahren Israel mit Adenauer-Deutschland Waffenhandel betreibt, welcher letztlich die primäre Grundlage für die spätere offizielle Versöhnung war. Im deutschen Militär, Geheimdienst und in der Rüstungsindustrie kooperierte Israel direkt mit der personellen Kontinuität Nazideutschlands, mit NSDAP- und GeStaPo-Tätern, mit Krupp, Flick und IG Farben. ("...300 Procent, und es existirt kein Verbrechen, das es nicht riskirt, selbst auf Gefahr des Galgens." nach Karl Marx)

Aber die jungen indonesischen Aktionskünstler konnten unter dem Suharto-Terror kaum internationale Geschichte studiert haben. Vielleicht haben sie nur aus raren Berichten die Provokationsrhetorik der jungen Palästinenser übernommen, von jenen hilflos skandiert vor den entsicherten Gewehren der Besatzer.

Antisemitisch?

Natürlich ist diese o.g. Diktatur-Verfilzung Israels antisemitisch wirksam, d.h. eine Schande und ein Makel für die Jüdische Gemeinschaft weltweit und Nahrung für die schlummernden antisemitischen Denkmuster in der deutschen Kontinuitätskultur der Theken. Die Darstellung des Künstlerkollektivs aber läßt durch den strengen und offensichtlichen Sachbezug keinen Spielraum für antisemitische Konnotationen. Alle Rollendarstellungen beziehen sich auf konkrete Taten und Tätergruppen. Ein Anprangerung der Verstrickung israelischer Institutionen und Unternehmen ist der einzige Bezug zu Indonesien unter Suharto. Eine Diffamierung israelischer Bürger allgemein oder der weltweiten jüdischen Gemeinschaft ist erkennbar nicht intendiert. Ein Offizier mit Schweinegesicht (etwas unterhalb) stellt auch keine Verunglimpfung jedweder Soldaten dar, sondern meint konkrete Täterrollen. Eine Darstellung der israelischen Verstrickung war sachlich geboten, ein Verschweigen wäre nicht verzeihlich.

Wer reflexhaft §ANTISEMITISMUS brüllt, wenn israelische Verbrechen kritisiert werden, steht natürlich erkennbar im Verdacht, eben diese Verbrechen vertuschen zu wollen oder gar mit den Dargestellten in einer Tätergemeinschaft zu wirken.

Allen aber, die den §ANTISEMITISMUS-Vorwurf vorsätzlich erhoben bzw. ohne Nachdenken nachgebrüllt haben, muß klar gesagt werden: Verleumdung ist ein schwerwiegendes Verbrechen!

Zu der notwendigen kollektiven Bildbetrachtung und Hintergrundrecherche in Besonnenheit und Ruhe, wie es in einer liberalen Gesellschaft selbstverständlich wäre, ist es nie gekommen. Das ist ja der Sinn des Bilder-'Entfernens'. Es ist noch kein Verbrennen, aber es ist eben diese totalitäre Bevormundung durch wenige Hoheprister der Doppelmoral, die unserem Urteilsvermögen zurecht mißtrauen.

Fackeln im Auenland

Zurück nach Deutschland 2022: Warum kann ein so fadenscheiniges Ablenkmanöver, ein so offensichtlich motiviertes Diffamieren so widerspruchslos, so lauffeuerhaft unsere Öffentlichkeit gleichschalten? Haben die deutschen Untertanen ihre einstigen Pauschalfeinde aus unreflektiertem Erbgewissen heraus nun als neue Moralführer adoptiert, wieder total ergeben?

Es gibt einen beängstigenden Widerspruch: In jedem privaten Gespräch schüttelt man den Kopf über diese offensichtliche Verleumdung. Niemand aber traut sich, öffentlich dagegen Stellung zu beziehen. Eine solche Schizophrenie ist sehr gefährlich, da die Ansichten der Bürger durch institutionelle Kampagnen überdeckt werden. Gegenreden erreichen nicht mehr die Öffentlichkeitsschwelle, sie werden von dieser ideologischen Immunabwehr nihiliert.

Man braucht zur Zeit nur an einer Straßenecke undeutlich 'Achsensymmetrisch' zu murmeln, und Stunden später werden Nachbarn denunziert und Rücktritte gefordert, Institutionen in Frage gestellt und präsidiale Drohreden gehalten.
Ist der Sandhang erst steil genug, kann sich niemand mehr ohne Katastrophe bewegen.

Wir haben ein erhebliches Progrom-Problem!

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Es reicht eben nicht, nur die Sündenböcke auszutauschen.

 

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Nachtrag (noch unerfreulicher)

Unser Politbüro hat in der Zwischenzeit ganz offen den Anspruch angemeldet, nur noch solche Ausstellungen zu finanzieren, die von ihm selbst vorzensiert werden. Müssen bald auch die Theater und Verlage wieder ihre Programmpläne bei den Funktionären einreichen?

Herr Meron Mendel wollte das ebenfalls so praktizieren. Als Berater hinzugezogen, hatte er wohl die Vorstellung, wie einst Ulbricht als Großinquisitor durch die Kunsthallen zu wandeln und mit 'Daumen hoch, Daumen runter' sein weises §ANTISEMITISMUS-Urteil zu fällen. Das konnte Künstlern aus allerlei diktaturgeprüften Ländern kein gutes Bauchgefühl geben. Woher hat Herr Mendel diese unerträgliche Selbstherrlichkeit? Ist das eventuell die Folge von systematischer Unanfechtbarkeit?

Zudem wurde das Gerücht gestreut, israelische Künstler wären unterrepräsentiert, also quasi boykottiert worden. Wie berechnet man das? Gibt es bereits eine Pflichtquote? Liegt ein Boykott vor, wenn nicht alle israelischen Künstler ein- und alle palästinensischen Künstler ausgeladen wurden? Oder ist das Diffamieren hier schon ins Reflexhafte übergegangen?

Nebenbei: Wie kann man in Deutschland eine Kunstausstellung planen, ohne den Zentralrat der Juden mit allen exekutiven Rechten einzubeziehen!?

Die gute Frau Sabine Schormann, verdiente Generaldirektorin der documente 15, hatte letztlich nie eine Chance. Sie bat zwar wie so viele unentwegt um Verzeihung, aber die Medien des Volkes schrien, und ihr Kopf mußte rollen. Vielleicht war sie von Anfang an zu defensiv. Sie hätte auf der öffentlichen Diskussion bestehen sollen, auf der Unschuldsvermutung, der Bildbetrachtung durch die Allgemeinheit, den Konsequenzen aus Beweisnot und historischen Fakten ... also auf den elementarsten Grundregeln der offenen Gesellschaft.

Man muß der Verleumdung entgegentreten, solange es noch einen Rest an Freiheitsgraden gibt. Sonst malen auch unsere Kinder in späteren Jahren ähnliche Bilder des Grauens, wo doch unsere alten Erfahrungen noch nicht ausgemalt sind.