Lothar Köster, 3. Mai 2021

irgendwie wortstichig

Die Sprache wird allzu oft als Werkzeugkiste verstanden: Der frühe Mensch, zufällig mit Verstand gesegnet, bastelte sich nach und nach Wörter und Regeln, um seine Erkenntnisse austauschen zu können. Warum also nicht eben mal ein paar neue Genderregeln kreieren, um Unrecht zu korrigieren? Nähe blendet. Die Sprachbindung unseres Denkens suggeriert Fehlwahrnehmungen.

Der Motor der Menschwerdung war Kooperation, also Koordinierung von Handlungen, katalysiert durch den Trick der akustischen Reiz-Assoziation. Gemeinsame Laute für Leopard, Speer und Angriff revolutionierten nicht nur die Jagd, sondern sozialisierten und differenzierten die Vorstellungs- und Handlungswelt. Aus diesen gemeinsamen Imaginationsmustern erwuchs zuerst kriechend, aber exponentiell das 'Über-Ich' der Kultur. Nur in ihr haben wir Individuen die Freiheit, unseren Weg zu wählen. Das System der gemeinsamen Sprechaktregeln war und ist ihr Katalysator, nicht weniger, nicht mehr.

Die Zeichenträger (Laut- und Schriftmuster) sind greifbare Schlüsselreize für die gemeinsamen, sozialen Vorstellungen, um die wir streiten wollen, die wir ohne Zeichenträger aber nicht zu fassen kriegen - unverzichtbar, aber durchsichtig wie Glas und völlig unbewußt im Gebrauch, wenn es zwischen uns zur Sache geht. In unserer extrem kooperativen Lebenswelt muß das Sprechen gut funktionieren, also bei geringem Aufwand viel Klarheit schaffen und Irrtümer minimieren. Sprache selbst ist kein Thema in der sprachlichen Handlungskoordination, sie bleibt unbewußte Routinehandlung. Durch die Verwendung in Billionen Sprechakten werden diese Zeichenkonventionen immer auf effiziente Passung zur Realität eingeschliffen. Ändert sich die Lebenswelt und die Zusammenarbeit, folgt die Sprachkonvention auf dem Fuße. Das Paradoxon: Der zentrale, unverzichtbare Katalysator unserer Kultur wurde von uns niemals 'geschaffen', geplant, konstruiert. Die Sprache hat Höhlenhockern zur städtischen Staffelmiete verholfen, aber sie ist NICHT UNSER WERK, also auch kein zweckdienliches Werkzeug.

Nichts ist sinnloser, als 'die Sprache' (bzw. ihre Schriftform) 'reformieren' zu wollen. Alle diese Versuche speziell in der preußischen Schultradition hatten ganz andere, praktische Ziele: Die selten gebildeten Lehrer, anfänglich aussortierte Soldaten, konnten blind den staatlichen Schreibregeln folgen. Und die letzte, peinlich dilettantische Rechtschreibreform von 1996 war erkennbar ein Auftrag auflagenschwächelnder Schulbuch-Großverlage.

Die Schatten der Schilder

Die klare Kausalformel lautet also ganz nüchtern: Ändere die Menschen-Welt, und die Sprechpraxis folgt ihr schnell, effizient und: automatisch.

Das Kernargument von Frau Nübling (Berliner Zeitung vom 29.04.2021, Seite 14) lautet: Wenn das Wort 'Wissenschaftler' generisch verwendet wird, denken wir alle an viel zu viele Bärte. Das ändern wir durch die weiblichen Zeichenzusätze.

Der Kern-Irrtum nicht nur von Frau Nübling: Es liegt in keiner Weise an dem auslösenden Zeichenträger, der Schall-/Buchstabenfolge 'WISSENSCHAFTLER'. Es liegt an der dahinter assoziierten Vorstellung, die in ihrer aktuellen Konventionalität (Deutungskern über alle Sprachteilnehmer, wer immer den kennt) die Überbärtigkeit tradiert. Die Vorstellungen in den Kulturen sind träge wie die Klimamaschine, die Zeichenträger sind folgsame Fahnen in deren Winden. Die Zuordnung ist aber beliebig. Statt 'Wissenschaftlerinnen' könnte man auch 'Fanikuma' einführen, es würde (unter Mühen) gelernt und als neuer Zeichenträger der alten, unveränderten Vorstellung zugeordnet. Hat man einmal die neue Genderkette verinnerlicht (das Ziel der Umerziehung), fällt die demonstrative Betonung der weiblichen Form unter die Bewußtseinsschwelle und verliert jeglichen Einfluß auf die kommunizierten Vorstellungen. Schlimmer noch, die honoren Herrenrunden gefallen sich in ihrer neuen Sprachgerechtigkeit. Verordnetes Gendern würde Teil der Rhetorik, der Selbstgerechtigkeit, welche die Rollenungerechtigkeiten verdeckt.

Und damit bin ich bei dem wirklich befremdlichen Anspruch der 'gerechten Sprache' und verwandter Schilder-Strategien:

- Wird durch das regelmäßige Stolpern über ausgegenderte Wortketten Denkzeit freigesetzt, in der das tradierte Professor=Mann-Muster spürbar in Frage gestellt wird? Werden so mehr Frauen auf Professuren berufen? Oder gehen einfach nur vermehrt die Satz- und Sachzusammenhänge in den Sprechakten verloren?

- Können die tausenden George Floyds besser atmen, wenn die traditionell rassistische US-Polizei in den Einsätzen auf das N-Wort (für: 'negro', 'nigger') verzichtet hätte bzw. verzichten würde?

- Wird die rassistische Überheblichkeit der Deutschen gegenüber den 'Entwicklungsländern' durch das Löschen kaum bekannter Täternamen auf Straßenschildern spürbar abgemildert? Wäre eine darunter gehangene Schilderung der Verbrechen nicht mit Abstand lehrreicher gewesen? Zugegeben, hier wirkt die Umbenennung immerhin kurzfristig als politische Aktion auf einige Interessierte. Aber nach zehn Jahren?

Tatsächlich wird durch solche Aktionen die oben geschilderte Kausalität zwischen Zeichen und Vorstellung systematisch umgedreht. Wenn wir die Fahnen fest auf Nord-Nord-Ost schweißen, dreht der Wind und das Klima wird deutlich und dauerhaft abkühlen. Sicherlich!

Dies ist im schlimmsten Sinne Wortmagie: Wir entfernen die 'bösen' Zeichenträger, und die Welt der Vorstellungen schreckt von diesen mutigen Taten auf - und wird besser. Man könnte genauso gut mit kleinen Nadeln in Wörter stechen.

Das Muster der Missionen

Hinter dieser Offensive der Sprachpolizei verbirgt sich tatsächlich ein anderes Muster, ein anderes Spiel. Die Berufenen ziehen mit Feuer und Schwert durch die Reihen der Mitmenschen, brüllen 'Gerechtigkeit' und halten jüngstes Gericht. Ihr Weltbild kennt nur 'Opfer' und 'Täter', mit der Reinheit von Abziehbildchen. Die Kriterien, nach denen sie hier verehren und dort vernichten, lesen sich wie Regeln aus der Schulfibel: Du sollst Wörter gendern, nur gerechte Wörter sprechen, mit weißer Hautfarbe nur weiße Texte übersetzen.

Statt einer differenzierten Analyse der globalen Ausbeutungsstrukturen, der subtilen Wirksamkeit von Rollenmustern und der turbulenten Interaktion von Kulturen konzentrieren sich diese Menschen auf Wortformen und Hautfarben!

Es ist der Kampf von Überforderten, Identitätslosen gegen die Kompetenten und Innovativen, gleichsam eine Kampfansage gegen die Komplexität der Welt. Ihr Schlachtruf lautet im Kern: 'Weg mit allen, die unsere einfachen Regeln in Frage stellen!' Weg wohin, sagen sie noch nicht.

Die Konflikt-Themen ihrer Wahl sind auffällig maximalmoralisch, totalitäre Singularitäten von Wahrheitssystemen, die selten über das GUT/BÖSE hinauskommen. Probleme wie Klimawandel oder globale Ausbeutung sind nicht in ihrem Wahrnehmungsbereich.

Es gibt vergleichbare Strukturen, an die man nicht sofort denkt, die aber aus demselben Mangel genährt werden. Der Antiislamismus der aktuellen Thekenpartei ist ein ebenso schlichtes Gut/Böse-Konstrukt. Verlorene, Vergessene und von der Aneignungsgesellschaft Aussortierte suchen eine stützende Identität in der Konstruktion eines Fremd- und Feindbildes. Ein Knüppel auf alle, welche diese ad hoc Tümelei in Frage stellen. So funktioniert auch das Leugnen von Corona. Apropos Wort-Voodoo: Letztere, so eindimensional wie herdentreu, nennen sich 'Quer'(sic!)'denker'(sic!)

Es ist ein tragischer Kategorienfehler, auf die Forderungen und Anschuldigungen der Sprach- und Hautfarben-Taliban mit Argumentationen zu antworten. Es geht und ging nie um eine Debatte, denn die würde ja die Möglichkeit einer Infragestellung oder Relativierung heraufbeschwören. Es geht gegen die Debatte, ja gegen die Zulässigkeit von Debatten.

Der Gendern-Ändern-Komplex

Wenn man mit der tradierten Männerdominanz in unserer Kultur nicht einverstanden ist, muß man den Mut haben, offen dagegen anzugehen. Es wirkt verdreht, ausweichend und eben auch mutlos, wenn man diese Ungerechtigkeiten 'in der Sprache' korrigieren will, nicht in der Lebenswelt, über die wir sprechen. (quasi: 'Gendern statt Ändern' )

Ich greife ein Beispiel von Frau Nübling auf: In einer Welt, in der die Frau aus dem Machtbereich des Vaters per Hochzeit in den Machtbereich des Ehemannes übergeht, ist es notwendig, diese beiden kulturell realen Zustände zu unterscheiden: Fräulein und Frau. Dieser Statusbegriff 'Fräulein' war bis in die 1970er in normalen Sprachgebrauch, wandelte sich aber bis in die 1980er so rasant wie der juristische und kulturelle Status der Frau. Die Verwendung nahm nicht einfach ab, sondern das Wort historisierte aus. Es bezeichnete bald danach etwas aus einer vergangenen Welt zwischen Adenauer und Sissy. Dazu war keine feministische Sprachkommission erforderlich, sondern die Durchsetzung einer erheblichen gesetzlichen Gleichstellung in der Ehe und im Beruf, in der Berufsausbildung und in der Präsenz des öffentlichen Lebens.

Die Kultur der Menschen ist kein Schnellboot, eher ein Container-Riese und nur mit großen Kräften und langem Atem in eine gerechtere Spur zu manövrieren. Die Geschlechterungerechtigkeiten werden uns noch Generationen beschäftigen. Vorsicht, sie stecken keinesfalls nur in Männerköpfen.

Verbindliche Sprachregeln, am Ende noch Gesetze, sind das Peinlichste, was uns passieren kann. Wenn jeder Mensch so spricht, wie er denkt, können wir uns offen über dieses Denken streiten. Ich möchte unbedingt dafür plädieren, jegliches Regulieren von mündlicher und schriftlicher Sprache aufzuheben. Dies betrifft die Schule (trauen Sie den Lehrern, trauen Sie den Schülern!), die öffentliche Verwaltung (schauen wir, wer dem Amt gewachsen ist), die Politik (nicht noch mehr rhetorische Verdunklung) und jede Debatte zwischen Podiumsdiskussion und Theke.

Jeder soll so formulieren, differenzieren und gendern, wie er (sie, div*dies*das) es für richtig hält. Ich freue mich auf Sachdiskussionen jeder Art. Wer nur GUT/BÖSE verstehen kann, ist von solchen Debatten leider überfordert und sollte sich zurückhalten.

-----

Nein, die Sprache kann nicht verkommen, verlottern oder verfallen. Die Sprache folgt unserem Denken und Handeln so präzise wie ungefragt. Haben wir Vertrauen in diese letzte kostenlose Dienstleistung, und wenden wir uns den Problemen und Konflikten des Lebens zu. Die sind schon kompliziert genug!