Lothar Köster, 19. Juli 2022

Irgendwie ein Verstörer, dieser Bundespräsident

Normalerweise stört er nicht und hält für sein erhebliches Salär gefällige Sonntagsreden. Jetzt aber hat er zur Eröffnung der Documenta 15 eine Drohrede gehalten, wie man sie nur von Ulbrichts und Erdogans kennen.

Schreien

Im Vorfeld hatten Hassamateure eine Verleumdungskette aufgebaut: Einzelne Künstler sollen im Umfeld von BDS gesehen worden sein. Berufene Funktionäre griffen das begierig auf und erklärten in der landesüblichen Differenziertheit die ganze Documenta für §ANTISEMITISCH und alle Beteiligten für unschuldsbeweispflichtig.

Daraufhin erklärt uns der Bundesfunktionär Hans-Walter Steinmeier die Parteilinie:

"Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft. Die Anerkennung ihrer Existenzgewissheit."

"Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!"

"Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten."

Nachdenken

Also denke ich sogleich über die 'Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen palästinensischen Gemeinschaft' nach. Wird durch die Infragestellung des Existenzrechts der palästinensischen Bewohner, immerhin die legitimen Landbesitzer, keine Grenze überschritten?

Herr Steinmeier, darf man Ihrer Meinung nach ~5 Millionen Palästinenser von ihrer Heimat vertreiben, weil man mit althistorischer Begründung Lebensraum für eine neue Heimat sucht? Sind Ihrer Meinung nach Palästinenser minderwertige Menschen, die weichen müssen?

Rußland hat einen Besitzanspruch auf die Ukraine gestellt und mit dem zaristischen und sowjetischen Besatzungsstatus begründet. Ist dieser Anspruch nicht deutlich glaubwürdiger als eine Vertreibung vor gut 2000 Jahren? Mit welchem Recht wollen Sie jetzt noch die russische Invasion verurteilen?

Eine praktische Frage: Was genau geschieht mit den Zeitgenossen, die diese von Ihnen mit roter Farbe gezogene Grenze des Denkendürfens überschreiten? Vortrags-, Förderungs-, Sende- und Berufsverbote, wie sie für Palästinenser bereits bestehen? Oder bekommt man dadurch selbst den P-Status und wird vertrieben? Sie sind der Droher, also konkretisieren Sie Ihre Vorschläge.

Schuldketten

Noch ein markiger Richtspruch aus Ihrem Munde:

"Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich."

Ein Embargo ist deutlich wirkmächtiger als ein bloßer Boykottaufruf. Wollen Sie also Rußland das Existenzrecht absprechen?

Ihre Drohung an die Freidenker geht hier in die nächste Runde. Ein Nachdenken über den israelischen Landraub ist strengstens verboten, also gleich Existenzverweigerung. Ein Boykottaufruf ist zugleich Existenzverweigerung, ein Gespräch mit Boykottsympatisanten oder Palästinensern ist zugleich ein Boykottaufruf, die öffentliche Verteidigung der Verdächtigten ist zugleich Boykottlerkontakt, das Lesen von solchen Verteidigungsschriften ist zugleich Verteidigung...

Letztlich ist dann wohl nur noch das Schwenken israelischer Winkelemente mit geschlossenen Augen unverdächtig. Herr Parteipräsident Steinmeier, in der Konsequenz ihrer Drohungen müssen sich Ihre Dienste langsam nach passenden Grundflächen für Flachbauten an den Stadträndern umsehen.

Gegenrede

In einer rechtstaatlichen und liberalen Gesellschaft ist die gegenteilige Ansicht existenziell. Wer eine Behauptung aufstellt, muß sie belegen können. Die Documenta 15 ist, mangels ernsthafter Vorwürfe, in keiner Weise antisemitisch. Den teilnehmenden Künstlern steht es frei, sich mit BDS-Vertretern zu unterhalten oder diese selbst zu unterstützen. Sogar eine Nähe zum israelischen Staat mit seiner Landraubpolitik kann toleriert werden. Die Künstler liefern Kunstwerke ab, und wir dürfen diese kritisch betrachten. Wir dürfen diese auch ablehnen und verurteilen. Aber niemand hat das Recht, mit Berufung auf seine Dogmen den Künstlern und den Ausrichtern zu drohen, diese zu verleumden oder gar Bilder zu entfernen.

Herr Steinmeier, Sie haben die Documenta 15 ohne Belege, also zu Unrecht und aus illiberaler Gesinnung heraus verunglimpft.

Verleumdung, Herr Steinmeier, ist das Handwerkszeug totalitärer Regime und in einem Rechtsstaat zurecht ein schwerwiegendes Verbrechen!

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Vielleicht sichern sie aber nur im Auftrag ihrer Genossen ganz pragmatisch die Milliarden-Gewinne der bilateral verfilzten Rüstungsindustrien ideologisch ab. (Beruhigt mich das?)