Lothar Köster, 21. März 2021

irgendwie simplizit

Was Kinder sich so merken... 'Ich bin zwei Öltanks' buchstabierte ich damals auf dem Schild an der Bundesstraße, und mir war schon klar, daß es um doppelte Abdichtung ging.

Gut fünfzig Jahre später marschiert die Sprachpolizei durch die Gassen der Öffentlichkeit. Die Satzlängen der Tagesschau haben sich spürbar erhöht. Absurdes spielt sich vor unseren Augen ab. Für die Äußerung 'Mietzins-Erpresser' wird man als Sexist gesteinigt. (Der Vermieter gendert und erhöht.) Wer das Schachspiel mit 'Weiß' beginnt, ist ein Rassist. Wer Palästina an die Wand schreibt, ist Antisemit und fast schon A-Leugner. Vom Spießrutenlauf der Satiriker will ich gar schweigen.

Herr Thierse hatte die Courage, sich hierzu kritisch zu äußern und u.a. auf die Sprechpraxis zu verweisen. Er erhielt natürlich neben viel stiller Zustimmung den sogenannten 'shitstorm'. Er ist nicht der erste, der solches erlebt hat, und er ist nicht der erste, der eine Entschärfung, Entgiftung der Debatte anmahnt. Hier werde ich stutzig, hier entdecke ich eine Ungenauigkeit in der Analyse dessen, was sich vor unseren Augen abspielt. Ich meine nicht die geforderte Entschärfung, sondern die Implikatur einer Debatte. 'Ich sehe zwei Öltanks!', möchte ich rufen, und ich meine damit zwei völlig verschiedene Handlungen, die hier zusammengeschaut werden.

- Einerseits kommen Stellungnahmen zurück, die teilweise zustimmen, oft differenzieren, eigene Erfahrungen einbringen und Verbindungen herstellen. Hier gibt es durchaus Kontroversen. Nicht jedes Argument kann der Überprüfung standhalten. Anderen kann man sich nicht verschließen... Dies ist in der Tat eine Debatte zwischen Menschen, die andere Meinungen lesen, verstehen und eigene Argumente formulieren können - Menschen, die ständig auf der Suche nach einer immer besseren Beschreibung und Erklärung sind, die gegen die modrigen Fundamente von Sexismus, Rassismus und Antisemitismus anarbeiten, bei allen persönlichen Macken und Eitelkeiten.

- Andererseits erhebt sich der sogenannte 'shitstorm', sprachliche Äußerungen von völlig anderem Charakter. Vom Bauch-Gebrüll der anonymen Alkoholiker auf der Sofakante, dem notdürftig eingetippten Phrasensalat, quasi Ostkurve, will ich gar nicht reden. Aber da sind eben auch die Repliken von Menschen, die sich nach eigenem Bekenntnis als gerechte Krieger gegen die drei populären Malismen (Sex-, Rass- und Antisemitismus) verstehen. Ich nehme ihnen den guten Willen und das erhabene Ziel durchaus ab. Allerdings finde ich in ihren Texten keine Argumentationen, und sie hören nicht auf andere Argumente. Ich finde Verurteilungen durch Klassifikation. Ich finde Missionierung, Zurechtweisung. Hinter allem klingt als Grundtenor die Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein... der einzigen Wahrheit... der einfachen Wahrheit. Diese Menschen wollen nicht erklären oder verstehen, sie wollen gut sein und fürchten eine Verflechtung mit dem Bösen. Also müssen sie das Böse überdeutlich bei anderen finden und dies laut verkünden.

Wer debattiert, sucht letztlich nach einem Konsens für die Verbesserung unseres Lebens. Ihr Handeln aber ist moralisches Erbsenverlesen: Der ist gut, der ist böse. Sie klassifizieren Menschen, nicht Handlungen. Und ihr Inquisitionsbesteck ist schlicht: Sie überführen uns der Verletzung der S/R/A-Regeln, die sie sich selbst aufgestellt haben:

- Wer nicht gendert, ist Sexist.
- Wer N-Wörter ausspricht, ist Rassist.
- Wer Auschwitz vergleicht, ist Antisemit.

Gelten auch die Umkehrschlüsse? Für diese Menschen - ja! Eine Streichholzschachtel voll Tabus treulich befolgen ist ihr Möglichkeitsraum, um ein GUTER zu bleiben. Wer aber differenziert, Details anführt oder Regeln infrage stellt, bringt sie in höchste Verlegenheit. Solche Komplexität ist für sie pures Glatteis. Sie können nicht überdenken, nachforschen, neuformulieren. Ihr einziges Geländer über dem Abhang löst sich auf, und im Höllensturz verfluchen und verdammen sie die Täter. Beide Seiten verstehen sich nicht im Geringsten. Der Debattierende hat sorgfältig formuliert und setzt interessiertes Abwägen blind vorausgesetzt. Der Überforderte erkennt nur einen totalen Widerspruch zu seinem GUTEN, also sieht er sich infrage gestellt und im Anderen den BÖSEN.

Dieses Verhaltensmuster hat epidemisch um sich gegriffen, per Mitläufer- und Jasager-Infektion: Gutsein kann doch nicht schlecht sein!? Viele stimmen der Titelblatt-Verurteilung schnell zu, um nicht selbst beschuldigt zu werden. Wer liest schon komplizierte Gegendarstellungen auf der fünften Seiten unten. Gerade Institutionen, Medien und Unternehmen sind extrem opportunistisch. Viele junge Leute folgen dieser Mode blind, bevor die Mehrheit von ihnen im Zuge ihrer Erfahrungen ins Grübeln kommt.

Die Rechte der Menschen werden in Debatten abgewogen, bevor sie von einer Mehrheit gegen das Unrecht durchgesetzt werden können. Die Überforderten können und wollen per Voraussetzung nicht daran teilnehmen. Sie suchen keinen Konsens, sie suchen keine Erklärungen, sie tragen auch zum Kampf gegen die realen, siebenköpfigen S/R/A-Drachen nichts bei. Ignorant et ignorabuntur. Sie suchen Erlösung von der Komplexität und Unwägbarkeit menschlicher Konflikte. Sie suchen den Frieden in der eindimensionalen Wahrheit. Und das Mittel ihrer Wahl ist die Sprachmagie:
- Die Geschlechterungleichbehandlung, die in Millionen Sozialisationen eintradiert ist, soll durch geschlechtsparitätische Sprechakte gebannt werden. Gendern statt ändern.
- Das N-Wort (für: 'Neger'/'negro') läßt als Synonym des verbannten Zeichenträgers nach wie vor dieselbe Rede, dieselbe Bedeutung zu. Verstummt der Rassismus damit? Kann George Floyd jetzt atmen?
- Das Vergleichsverbot zu Auschwitz geht über diesen Wort-Voodoo hinaus. Es ist ein kalkuliertes Denkverbot und untersagt faktisch jegliche wissenschaftliche, öffentliche und didaktische Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung. Hier ist erkennbar ein Deutungsmonopol mit Sachnteressen intendiert: Auschwitz all rights reserved. Die Rufmord-Tauglichkeit mindert das nicht.

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Die Mehrheit der Zeitgenossen ist guten Willens und für Argumente offen. Eine radikale Minderheit von Simplizisten aber übertönt und vergiftet jede Konfliktdebatte.

Eine sachliche, aber deutliche Zurechtweisung zeitigt einige Wutausbrüche.

Eine Unterlassung aber bedeutet eine Aufgabe der Debattenkultur.