Lothar Köster, 3. Juli 2022

Irgendwie bloodwork orange

Es wäre so herzenswarm schön gewesen...

Die Enkel der Opfer des Unfaßbaren reichen den Enkeln der Tätern des Unfaßbaren die Hand!

Die verbliebenen Deutschen, die vormals noch in ihrem Untertanenwahn ganz Europas und die eigenen Intelligenz, Kultur und Humanität vernichtet oder vertrieben hatten, arbeiten nunmehr hart aber friedlich, trinken ihr Bier schweigend im Schrebergarten und ... reichen ihren Opfern die Hand!

Die über Jahrtausende durch die Länder geflüchteten, als Sündenböcke gejagten, vom industriellen Faschismus dezimierten Juden ernten nunmehr Orangen, forschen, tanzen in der Sicherheit der wiedergefundenen Heimat und reichen, im Bewußtsein der unfaßbaren Erinnerung, den Tätern ihrer Pein ... die Hand.

Das weiße Fest

Welch ein Triumpf der Menschlichkeit, welch ein Friedensfest, welch eine Erlösung, welch ein letztes Ende der Gefechte! Wir alle hätten ein Jahr durchgeheult vor Glück und jegliches Gelübde abgelegt, diesen Frieden zu erhalten ...

... hätten wir nicht unter den weißen Schuhen dieses Triumpfzuges die blutigen Spuren entdeckt, spät erst, nach langer Ungläubigkeit, bierselig im Freudenstaumel.

Der rote Schuh

Aber diese glückstriefende Neue Heimat war nicht unbewohnt gewesen. Sie war schon Heimat von irgendwelchen glücklosen Anderen. War es der rassistische Kolonialismus der Europäer, war es das stumme Echo der erlebten Gewalt, die Prägung der Opfer durch die Täter, die 'vorwärts und schnell vergessen'-Falle? Im beiläufigen Zorn, im höchsten Glück gestört, haben sie die Palästinenser Palästinas entsorgt: verjagt, verfolgt, ermordet, ihres ebenso heiligen Landes wie ihrer Kultur beraubt, ihnen als Volk das Existenzrecht abgesprochen, sie ins Meer gejagt.

Frucht der Taten

Wir haben diese saftige Orange in der Hand, wir wollen die Süße der Frucht schlürfen. Werden wir auf Knochenmehl beißen?
Was für ein Fluch, was für eine schwärende Wunde:
Eine schwarz blutende Frucht reift uns dort!

Wieder muß man nach dem Warum fragen. Warum haben sie und wir immer wieder weggeschaut, Jahr für Jahr, Mord für Mord, Dorf für Dorf? Warum wurde nicht innegehalten, pausiert, mit blutigen Händen nachgedacht? Warum wurde nicht um Ausgleich, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung gerungen? Warum wurden alle aus den eigenen Reihen bekämpft, die solches versuchten?

Jetzt stehen wir Täterenkel unseren Opferenkel gegenüber, um auf dem Höhepunkt der Versöhnungsfeier festzustellen, daß jene uns gerade so gnädigen nun selber Täter sind, gegenwärtig eifrig wütend als Vertreiber und Mörder, keinen Argumenten zugänglich.

Unter Michels Mütze

Was machen die 'gewöhnlichen Deutschen', die ewigen Untertanen, angesichts dieses tragischen Dilemmas? Sich mit Fragen zu Wort melden? In Geschichtsbüchern blättern? Argumentationen prüfen? Details in Zusammenhänge stellen?

Sie ducken sich und suchen noch mehr Sicherheit bei ihren Wahlführern, fordern noch klarere Parolen und unbestreitbarere Glaubenssäulen. Sie kuscheln sich in die Ecken klarer Gesinnung und spucken wieder auf jeden, der eigenständig und differenziert denken möchte, der bereit und willens ist, zu vergleichen.

Sie jubeln ihren Funktionären zu, wenn diese totale Existenzrechte verkünden. Sie kleben an den Lippen der Antisemitismusbeauftragten, um als erste die Namen der Verfemten aus ihren Adressbüchern zu schaben. Verleumdung und Rufmord sind hier noch die geringsten Risiken für Freidenker. Das sitzt tief, das ist hier kulturelles Erbe. Man kommt nicht umhin, die Wiederholung eines Musters zu erkennen.

Sisyphos

Aber auch jenseits der peinlichen Deutschen besteht die tragisch fluchbeladene Existenz Israels fort: Wieder stehen wir vor der all zu alten Frage: Wie können diese Opfer und Täter jemals versöhnt werden, die tödlich bewaffnet Wütenden und die in dritter Generation unwürdig Überlebenden, unerklärlich geduldig in ihrer ungeduldeten Diaspora?

Gibt es so etwas wie eine pragmatische Vision, eine salomonische Strickleiter aus dem kochenden Lavasee des Hasses? Eine Lösung ohne Auslöschung? Ein Wandel ohne Waffen?

P50:I50

Man kann die Toten nicht ausgraben. Aber man kann die Vertriebenen zurückbitten auf ihre einstigen Besitztümer, die man ihnen zur Hälfte rücküberträgt. Man teilt alle aktuellen Güter des Landes überall genau zur Hälfte zwischen israelischen und palästinensischen Familien auf: Die Häuser, die Felder, die Arbeitsplätze, die Rechte, die Ämter und Abgeordneten, die Reichtümer, die Theaterplätze, die Krankenhäuser und Schulen, die Friedhöfe und die Polizei! Jedes Wohnhaus, jede Arbeitsstätte wird paritätisch geteilt, so es irgendwie geht. Die Feinde müssen Tür an Tür wohnen, Stuhl an Stuhl arbeiten und die Sprache der Nachbarn lernen. Armee und Geheimdienste muß und kann man für den Umbau einsparen, aber Sozialarbeiter müßten wohl aus aller Welt rekrutiert werden. Eine Vereinigung der Unvereinbaren unter strengster Parität als Verfassungsgrundsatz und mit internationaler Patenschaft. Keine Schule, keine Fabrik, kein Wohnblock bliebe unverändert, aber eben auch keine orthodoxe oder fanatische Zelle. Ein radikaler Neuanfang für ausnahmslos alle, das Zurücksetzen einer ganzen festgefahrenen Gesellschaft.

Nicht, weil es gerecht wäre, sondern weil es heilt!

Überall mögen sie sich im Patt der Kräfte persönlich gegenübersitzen und sich einigen. Auge in Auge, unter Mühen. Tägliches Streiten erfordert tägliches Einigen. Die völlige Vermengung und Verstrickung von Tätern und Opfern kann aus beiden eine friedliche Gesellschaft bilden. Die erste Generation arrangiert sich, die nächste freundet sich an, die dritte bildet eine friedliche Einheit in Kultur und Identität. Dies wäre die höchstmögliche Sicherheit der ewig verfolgten Juden, jetzt von ihren heimgekehrten arabischen Tür-Nachbarn geachtet und verteidigt. Jetzt kann jeder in der Völkergemeinschaft das Land anerkennen und friedlichen Handel mit ihm treiben.
Sie sehen viele Probleme? Die kann man lösen, wenn man willens ist.
Die Hälfte abgeben? Das ist wahrlich ein geringer Preis für die Rückkehr in ein friedliches, menschliches, sicheres und, na ja, gerechtes Leben.

Vermutlich ist dies die einzige praktikable Therapie für hasszerstörte Menschengruppen. Kennt irgend jemand irgend eine bessere Lösung?

Natürlich, zuerst müssten die Täter ihre Schuld eingestehen.

Und natürlich, davor noch müssten ihre Institutionen das Morden stoppen.

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In einem gewinnwütenden Kapitalismus mit extremistischer Bevölkerungsmehrheit ist das wohl doch eine gewagte Utopie.