Lothar Köster, 13. November 2021

irgendwie gutgöttlich

Manchmal treffen vor unseren staunenden Augen Dinge beiläufig aufeinander, die unser Verstand niemals zusammen in demselben Sonnensystem erwartet hätte.

Bei der Chorprobe, zwischen zwei Stücken, komme ich ins grübeln.

Wir proben die titanischen Chöre der 'Maßnahme', dem frühen Meisterwerk des jungen Meisterpaares B. Brecht & H. Eisler, was jahrzehntelang durch Stalin-Scham und gierige Narren verhindert wurde.

Eisler entsetzte sich über 'die gestandenen Arbeiter, die in der Kirche vom `Jesulein zart` singen'.

"Ändere die Welt, sie braucht es!" Nur ein Eisler kann dieses nüchtern- analytische Revolutionsdrama Brechts in solch gewaltige, aber nicht überwältigende Vokalmusik bringen. Es hat schon Gründe, warum er in deutschen Orchester-Repertoires immer noch totgeschwiegen wird.

Aber zum Warmsingen wurde Mendelssohn-Bartholdy gereicht, "Verleih uns Frieden gnädiglich" (1831). Er schreibt einen romantisch fließenden Kontrapunkt auf den Schultern von Händel und Bach.
Während ich noch neugierig auf die Musik lausche, dämmert mir langsam, was ich da für Worte singe.

"Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine."

Das alte Antiphon (9. Jhd.), von Martin Luther (~1529) als Kirchenlied übersetzt, wurde eben auch von Mendelsson-Bartholdy aufgegriffen.

Seit dem berüchtigten Neolithikum sind es die Räuberherren, die Heere ausrüsten, um sich Nachbarräuberreiche einzuverleiben. Die Herrscher gewinnen sich Reiche, die Beherrschten verlieren Haus, Hof und Leben. Warum also knien sich die verheerten Heerscharen vor den heiligen Steinen ihrer Götter nieder, um gerade von ihnen den Frieden zu erbitten?

Das ganze Bild war schräg, gerade weil es doch so eindeutig paßte: Der Knecht war rechtlos, also muß er vor dem Räuberherrn (man nennt das wohl Adel) niederknien und bitten. Der Herr allein könnte gnädiglich Frieden verleihen, wenn er denn wollte...

Warum aber muß man auch vor dem 'guten Gott' der Juden, Christen, und Mohammedaner niederknien und betteln?

Johann Walter, der den Text 1566 wie folgt fortgeschreiben hat, gab mir den letzten Tritt zur Erkenntnis:

"Gib vnserm Fürsten und aller Oberkeit fried vnd gut Regiment,
das wir vnter jnen ein gerüglich vnd stilles leben führen mögen
in aller Gottseligkeit vnd erbarkeit."

Der soziale Mensch faßt seine Welt in Begriffe:
'Zeit' aus dem Gewebe der gemeinsamen Erinnerung.
'Geld' als allgemeiner Tauschwert menschlicher Arbeit.
'Götter' als personifizierte Mächte der Natur und der Macht der Ahnen.

Nach acht Jahrtausenden Untertänigkeit unter den Räuberherrschern wurde der Pantheon der Götter den neuen Realitäten angepaßt. Die Monotheismen formulierten die Hoffnung auf einen allmächtigen Fürsten, der gütig, friedliebend und gerecht sein würde... also, mit anderen Worten, endlich mal kein Räuber.
Die Religion, ein direkter Spiegel der gesellschaftlichen Strukturen, zeigt den engen Tunnel der Visionen.

Da macht auch die frühe Vision vom Sozialismus keine Ausnahme. Lenins Blaupause, die Diktatur des Proletariats, vertreten durch eine 'gute' Partei ('neuen Typs'), mündete in der Praxis stets und bestenfalls in einen Partei-Absolutismus mit Personenkult und Geheimdienst.

Oh großer Vorsitzender, oh unfehlbare Partei, verleih uns Gerechtigkeit und Frieden ... gnädiglich!

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Das wir 'keine andren Herren brauchen, sondern keine' (BB), kann sich das Heer der gebückt Knienden, nach fünfhundert Generationen Untertänigkeit, selbst dann noch nicht vorstellen, wenn es schon auf den Barrikaden steht.

 

(Zitate nach Wikipedia)