Lothar Köster, 28. Juli 2022

Irgendwie lumbung

Es ist durchaus überwältigend, was an Poesie zwischen den räuberischen Mahlströmen der Milliardenmenschheit aufkeimen kann. Man muß aber in unserem Lande viel Mut aufbringen, diese in Würde zu präsentieren.

Ein intensiver und aufmerksamer Besuch der documenta fifteen war auch ohne die §ANTISEMITISMUS-Verleumdungen der Funktionäre und Bilderstürmer geplant. (Es ist meine vierte documenta, über mehr kann ich nicht urteilen.)

Die gesichteten Vorgänger waren bunt, überladen und thematisch streckenweise beliebig. Die 15 aber ist konzentriert, thematisch klar und oft zutiefst berührend. Sie wird erstmalig dem sozialen und politischen Anspruch an die Gegenwartskunst gerecht, und sie ist auf ihre Weise durchaus bunt. Ich enthalte mich jeglicher Rundschau und berichte nur in exemplarischer Verdichtung.

'Lumbung'

...ist der indonesische Begriff für einen besonderen Reisspeicher. Er nimmt in einer Gemeinschaft von Reisbauern die überschüssigen Ernteerträge auf, um in späteren Krisenzeiten alle vor Hunger und Not zu bewahren. Es ist quasi eine dörfisch-agraische Version des bedingungslosen Grundeinkommens, ein althergebrachter Grundbegriff für die zutiefst menschliche, das Menschliche konstituierende Struktur: Das Kollektiv der Arbeit, aus dem die Kultur, die Sprache und die Gerechtigkeit als Kern des Sozialen hervorgegangen sind.

Raubherrschaft

...ist der Gegenbegriff, der uns seit der neolithischen Revolution mit allen Formen der Hölle verfolgt. Er ist ein Makel der Bevölkerungsballungen, von den ersten Städten bis zu den Milliardenstaaten, und er ist seine schlimmste, seine tödliche Kinderkrankheit. Minderheiten wurden zu systematischen Räubern der arbeitenden Mehrheiten und etablierten sich über hunderte von Generationen als Herrschaftskasten. Doch erst der kolonialisierende Kapitalismus, der sich auf das globale Ausbeutungsgewerbe konzentrierte und die Herrschaft den Staaten überließ, schuf den Freiraum für die blutigsten und wahnsinnigsten Diktaturen, durch Kommunikationstechnik totalitär, durch industrielles Militär massenmordend.

Der geteilte Globus

...kennt nunmehr zwei sehr verschiedene Perspektiven auf die jüngere Geschichte. Das relativ kleine Europa (inklusive der entamerikanisierten US-Kolonie; kurz: der 'Westen'), zufällig zuerst durch die Seefahrt und die Kohle-Stahl-Kanonen-Spirale zur globalen Räuberbande aufgestiegen, steht der Überzahl der kolonialisierten, ausgeraubten Ethnien gegenüber.

Zur Räuberkultur gehört die Arroganz der Zerstörenden, die ihr rassistisches Selbstverständnis belegt sehen im Erfolg ihrer Völkermorde, in ihrer eigenen Unversehrtheit und der Stattlichkeit ihres Räuberspecks.

Die Überfallenen sehen sich nicht nur ihrer Arbeit und Naturschätze beraubt, sondern finden sich in den Ruinen ihrer völlig zerstörten Kulturen wieder. Sie müssen nicht nur die Marionetten-Diktatoren der Räuberregime bekämpfen, sondern auch ihre systematisch zertretenen Traditionen und Ursprünge ausgraben und restaurieren.

Das Ringen

...der ausgeraubten Menschen um minimale Menschlichkeit, quasi ihr Lumbung, wurde auf dieser documenta vom kuratorischen Team 'ruangrupa' aus Indonesien umfänglich thematisiert, nicht verbal-argumentativ, sondern in den Kunstwerken von Kollektiven aus aller Welt, differenziert, bodenständig, uneitel, auf höchstem Niveau. Sie zeigen die tiefen Brandwunden in ihren Jahrtausende alten Kulturen, dokumentieren kollektive Selbstbehauptungsversuche der lokalen Ethnien in Arbeit und Selbstachtung, ihr tagtägliches Überleben als Künstler unter verarmtem Publikum, ihre Vernetzung jenseits der schillernden Galeristenszene, ihren friedlich-therapeutischer Blick auf die stete Folge von Raubzügen und Mordherrschaften, die über ihre Länder gezogen sind, unvollendete Vergangenheit.

Das Kassler Auenland

..., die documenta fifteen mit ihrer politisch-offenen Tradition und der neuen Perspektive, schien den Künstlerkollektiven nach Ausstellungen in der (wirklich!) ganzen Welt vermutlich ein reizvoller Ort im 'Zentralwesten', um friedlich auszustellen und auf die Zuschauer zu lauschen. Sie waren sicherlich für jede Debatte offen. Empfangen wurden sie mit dem erklärten Gegenteil.

Schon die Auswahl, diese vielen Beiträge aus Asien, Nahost, Afrika und Lateinamerika, waren manchen deutschen Kunstfreunden zu viel Überseemuseum, zu wenig westlicher Galeristenadel. Der antikoloniale, rassismuskritische Ansatz war ihnen Provokation und Anklage. Aber das mochte sie so direkt nicht aussprechen, denn es lag eine offene Debatte in der Luft. Hier fehlte ein konkreter, alles entwertender Knüppelvorwurf, ein finaler Hieb auf den Kopf all derjenigen, deren Argumente man fürchten mußte. Intuitiv war allen Hobbits klar, wonach zu suchen war. Argumentieren wollten sie nie.

Den Kuhhandel

..., auf welchem die bundesrepublikanische Rhetorik der Vergangenheitsbewältigung aufgebaut worden war, konnte und mußte Taring Padi nicht kennen. Die meisten Deutschen kennen ihn nicht.

Treu und begierig hatten die deutschen Untertanen vor drei Generationen all diejenigen erschlagen, auf die ihre Führer gezeigt hatten, Weltbürger, Wissenschaftler, Künstler, die komplizierte Schriften und komplizierte Bilder schaffen konnten, die jene nicht verstanden. Entartete, Juden, schuldig auf Zuruf.

Nachkriegsdeutschland wurde unter US-Aufsicht in NS-Kontinuität restituiert, es schwieg und arbeitet. Die deutsche Stahl- und Rüstungsindustrie hatte ein erhebliches Absatzproblem. Der junge Staat Israel benötigte für seine Lebensraumbeschaffung immer mehr Waffen. Keine zehn Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wurde verhandelt, natürlich geheim, mit schneller Einigung. Seither beliefert Deutschland Israel mit Waffen, hauptsächlich aus deutschen Steuermitteln. Die Anerkennung und Aussöhnung mit Israel ist primär keine humanistische Anstrengung gewesen, sondern eine Schadensbegrenzung nach aufgeflogenen Waffengeschäften um 1965. All die ehrlichen Versöhnungsbemühungen durch Partnerschaften, Schüleraustausch u.ä. sind dem massiven Waffenhandel kausal nachgeordnet. Was für eine Hypothek!

Deshalb besteht die offizielle Aussöhnungsdoktrien faktisch im Dogma der Unangreifbarkeit des Staates Israel. Man kann noch so jüdisch sein, für besatzungskritische Äußerungen wird man sofort boykottiert und ausgegrenzt. Dies ist der eigentliche Hintergrund für die Drohrede des Herrn Steinmeier.

Viele aufgeklärte Menschen dieses Landes verurteilen und bekämpfen den unbewältigten Antisemitismus ihrer Zeitgenossen, kritisieren aber unabhängig davon die israelische Gewaltpolitik.

Die Kleinbürger, Simplisten und Untertanen aber rennen nach wie vor brüllend los, wenn die Parteipolitiker Israelkritiker als §ANTISEMITEN verleumden. Treu und ergeben stimmen sie das altbekannte 'WEG MIT DENEN' an und überlassen es wieder den Oberen, dies logistisch zum Ende zu denken.

Die 'ruangrupa'-documenta

...ist unvorbereitet in dieses ideologische Minenfeld geraten. Wenn Taring Padi in People's Justice die Drahtzieher des Suharto-Regimes aufmarschieren läßt, kann der Mossat-Staat aus Gründen der Ehrlichkeit nicht fehlen. Nicht die Juden in der Welt, nicht einmal die israelischen Bürger werden pauschal angeklagt, sondern erkennbar ausschließlich die israelischen Rüstungsgewinnler und Agenten, die im Suharto-Indonesien in Verbrechen verstrickt waren.

(Auch Nachkriegsdeutschland hätte hier einen Platz verdient. Es war für Suharto wie auch für vielen anderen Blut-Diktaturen ein verläßlicher Handelspartner mit Kuscheldiplomatie.)

Die Künstler waren zu arglos und zu mitfühlend, um das rhetorische Kalkül hinter dem Beleidigungsgebrüll zu durchschauen, wo doch auch die Mehrheit der deutschen Zeitungsleser den Hintergrund nie durchdacht hat und sicherheitshalber mitbrüllte. Das rhetorische Gift hat gewirkt, denn sie fühlten sich schuldig und gingen von einer deutschen Empfindsamkeit aus, die sie in Unkenntnis verletzt hätten.

Liebe Künstler von 'ruangrupa' und 'Taring Padi', Ihr habt tatsächlich nur die verborgene Alarmanlage ausgelöst, welche die deutsch-israelische Blutsbrüderschaft der Rüstungskonzerne und Geheimdienste vor Enttarnung schützen soll.

Man hat Euch verleumdet und übel nachgeredet. Ihr seid Opfer einer Propagandastrategie geworden, welche verbrecherische Ziele verfolgt und welche ich daher verbrecherisch nenne.

People's Justice

..., das so kunstvolle wie analytische Triptychon des indonesischen Martyriums, wurde von Euch aus der documenta fifteen übereilt entfernen, weil Ihr durch eine Flutwelle von Beschuldigungen eines angeblichen Antisemitismus überrollt wurdet. Bei ruhiger, umsichtiger und historisch informierter Betrachtung stellen sich die Anschuldigungen allesamt als Lügen und inakzeptablen Drohungen heraus. Ich bitte Euch daher, das Bild erneut öffentlich auszustellen und es darüber hinaus über das Internet der breiten Öffentlichkeit zur Beurteilung zur Verfügung zu stellen.

Sollte die administrative Leitung der documenta fifteen sich diesem Akt demokratischer Meinungsbildung widersetzen, findet sich sicherlich ein couragierter Träger und ein angemessener Ausstellungsort.

Ihr wißt aus Eurer eigenen Vergangenheit, daß das Verschweigen und Verschwindenlassen von Kunstwerken und Künstlern die Vorboten totalitärer Diktaturen sind. Wir möchten diesem Trend in unseren Land entgegentreten mit einer öffentlicher Auseinandersetzung über alle Hintergründe dieses beeindruckenden Bildwerks, aber auch über die Mechanismen der Verleumdung, die von öffentlichen und privaten Personen vor unseren Augen betrieben wurden.

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Das Gebrüll täuscht, was ja auch sein Zweck ist: Es gibt in diesem Land viele kritische und liberale Geister, die klug genug sind, sich auf Debatten und Argumente einzulassen. Zeitgenossen, die ihre Suche nach dem geistigen Lumbung nicht aufgegeben haben.