Lothar Köster, 16. September 2016

Irgendwie hängt er schief...

... mein Kandidat, an dieser Laterne. Er ist nicht allein, aber es ist in diesem heißen Herbst nicht so schlimm, wenn die Laternen verhängt werden: Sonnenlicht gibt's ja reichlich.

Seid meiner Kindheit hingen Kandidaten an den Laternen, um dann plötzlich auf LKWs geworfen zu werden. Sie sind durch ein Kreuz erlöst worden, raunte es in der Volksschule.

Jetzt, in Berlin, hängen wirklich viel daran, und teilweise ist der Platz so eng, daß sie seitlich ausweichen müssen ... dann sieht man wirklich ein Kreuz. Abendländische Leit-Ikonographie.

Eine verläßliche Konstante: Man sah sie nur an Laternen, aber nie persönlich. Bürger, Abgeordnete, zwei völlig getrennte Welten. Dann aber stand der Joschka vor meiner Tür. Ein leger-schicker junger Mann, fast schüchtern, weit entfernt vom politischen Handelsvertreter oder der Talkshow-Rampensau. Ich hielt ihn zunächst für einen neuen Nachbarn, der ein Päckchen abholen wollte. Ich war höflich, er war höflich, auch als ich ihm gestand, daß meine 100%-THF-Initiative den Lobby-Aktien seiner Partei sehr geschadet hatte. Er wolle sich für meine Bürgerinteressen einsetzen. Aha. Der persönliche Kontakt wäre ihm wichtig. So so. Wir verblieben, daß wir später mal in's Gespräch kommen könnten.

Im Internet-Zeitalter Hausbesuche, Auge in Auge mit dem Wähler, persönlich um die Stimme bitten? Man kann sagen was man will, es hinterläßt Wirkung. Kann dieser schüchterne junge Mann ein Betrüger sein?

Nun, man sollte die Werbeblättchen einfach einmal lesen. Schulen, Kitas, Kinder-Chancen verspricht mir Herr L. in seiner Broschüre. Aber er hat im Abgeordnetenhaus brav die Hand gehoben, als die Haushaltsmillionen an die Lobbys verschoben wurden: A100, BER, geheime Geschenkverträge, Privatisierungsraubzüge, ergänzen Sie selbst. ...

Ja, der junge Parteifunktionär kann und will ein Betrüger sein. Seine Kariere plant er in einer Körperschaft des geheimen Unrechts, und er tritt ohne Scham vor meine Wohnungstür, um mir ins Gesicht zu lügen. (Vielleicht Pflichtteil der Parteischulung, junge Schauspieler müssen z.B. kellnern ...)

Auf der Rückseite seines Fangzettels sehen Sie übrigens das mühsam lächelnde Konterfei des Herrn Müller, der biedere Verwalter der Berliner Bürgerkelterei, schlicht und gründlich, ideenlos und ersetzbar, irgendwann vielleicht durch einen dann biederen Herrn L.

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Hier Hausbesuche, dort Kindlein knuddeln, Menschen wie Du und Ich? Ja, eben, und diese Menschen können unter diesen Verhältnissen zugleich die Kindlein wickeln und die Bürger verraten. Keine Elite, nichts Höheres, biederes Mittelmaß auf Posten.

Die Banalität des Zahnrades, welches getrieben das Böse treibt.

(Aber diese schicke Brille ...)