Lothar Köster, 09. September 2023

irgendwie breit, diese Erinnerungen

Mitte September 2001 entdeckte ich auf einer sehr offiziellen Informationstafel einen kleinen runden Aufkleber mit dem denkwürdigen Text: "Bedingungslose Solidarität mit den USA". Das erschien mir ein seltsamer Tonfall. Wenn Menschen andere Menschen sterben sehen, ist das einzige Bedingungslose die Trauer. Zugegeben, das ist zumindest meine Hoffnung. Man kann anderer Meinung sein, andere Ziele verfolgen, anderen Kulturen angehören, ja man könnte andere auch für Verbrecher halten und dies möglicherweise auch beweisen können. Wer wäre aber so unmenschlich, so entmenschlicht, ihnen deswegen den Tod zu wünschen? Die Attentäter, höre ich alle rufen.

Erbschaften

19 junge Burschen, im rechten Alter für Liebe, Party und pure Sorglosigkeit, bereiten sich monatelang auf den sicheren Tod vor. Wie viel Hass und Verzweiflung muß sich über Generationen im Lagerleben der Heimatvertriebenen, der Ins-Meer-Gejagten, Kultur- und Hoffnung-Beraubten angesammelt haben, daß die Enkel, im Auslandsstudium, also eigentlich dem Fluch entflohen, ihr Leben wegwerfen für das Generationenunrecht? Aber das ist offensichtlich eine Ausnahmehaltung angesichts der breiten Masse des Totmachgewerkes. Ich sehe Männer und Frauen aus behüteter Kindheit, mit sorgfältig bedachter Berufswahl, im Wohlstand ausgebildet, die sich für ihre Schichtdienste bequem und rückenschonend vor die Bildschirme setzen und mit Routine und einigen Späßen auf den Lippen das Feuer ihrer Drohnen auf dieses oder jene Fahrzeug richten, um vielleicht noch verspielt über das Wellblechdach der benachbarten Schule zu streichen.

Ich trauere um diese in New York Getöteten und habe die Attentäter eingeschlossen. Ich kannte sie alle nicht, aber ich trauere um sie. Sie waren Menschen, wie ich.

Opferzahlen

 Jetzt, 22 Jahre später, sind die Bilder dieser Medieninszenierung immer noch in meinem (und wahrscheinlich jedem) Kopf, und so kann ich sie Revue passieren lassen, um zu trauern.

2996 Menschen starben. So genau weiß man das selten. Bei den unzähligen Interventionen, Umstürzen und Terroroperationen hat niemand gezählt. Im zu 90% zerstörten Korea, in Indochina gibt es grobe Schätzungen im Millionen-Bereich, in Hiroshima und Nagasaki kannte man die Einwohnerzahlen. In den letztgenannten Großstudien hat man interessiert die Strahlenkrankheit studiert, aber nicht die Toten gezählt. Im Irakkrieg zählte man die an Uranstaub erkrankten US-Soldaten, der Rest war Bulldozer-Arbeit. Ich erinnere mich an die Bilder vom 'Öffentlichen Luftschutzraum 25', in dem die glorreiche US-Armee mit Hightech-Waffen im Millionen-Dollar-Bereich unter einer Betondecke 400 Zivilisten tötete. Ein erfolgreicher Waffentest, sie verkauften sich danach deutlich besser.

Die Twintowers und die Düsenjets waren nicht für ein Zusammentreffen gebaut. Beide getrennt dienten u.a. dem Welthandel der US-Konzerne. Die Holzhäuser in Korea, die Reisstrohhütten in Vietnam schützten vor Sonne und Dauerregen, nicht vor Napalm. Letzteres war aber durchaus für diese Hütten geschaffen worden, eine relativ kostengünstige Massenmethode. In New York fielen die Menschen vor den Kameras der Welt hundert Stockwerke lang in die Tiefe. Von den brennenden Reishütten gibt es ein paar Bilder. Im Irak, in Pakistan sah es niemand, Filmverbot, vermutlich wegen der Urheberrechte.

Türme und Hütten

Die Asche der Hütten und der Menschen ist still verflogen. Vom Verbrennen der alten Stadt Hiroshima und ihrer Einwohner zeugt nur ein Armee-Film mit dem futuristischen Feuerball, Potenzwerbung der US-Army. Aber die Zwillingstürme des mächtigen US-Welthandelszentrums im wolkenhohen New York haben wir vor unseren Augen zusammenstürzen sehen. Gierige Medien wiederholen die Bilder jährlich zwanghaft. Der höchste Palast der selbstherrlichen Weltenräuber ist vor den Augen der Welt in einer Staubwolke versunken. Am Grunde der Moldau...

Das Imperium schlug zurück, wutschnaubend diesmal, alle Profitstrategien hintanstellend. Es wollte alle Türme aller Gegner seiner bislang ungestörten Raubzüge stürzen, zerstören, zertreten. Allein, die Bösen, die Spiegelbilder, waren nicht greifbar. Man erklärte ganze Völker zu Gegnern, allein dort standen nur Hütten. Man wütete vor den Augen der Welt, aber einstürzende Türme des Bösen konnte man ihnen nicht zeigen. Während sie ersatzweise Buben-Baller-Spiel-Szenen veröffentlichte, schlachtete die US-Army heldenhaft mit Lufthoheit eine halbe Million Menschen ab. Jeder einzelne ein Mensch, der ohne Zeugen verblutete oder verbrannte.

Beton

Schnell wurde ein noch mächtigerer Turm errichtet, aber sein schillerndes Glas kann die Bilder der einstürzenden Türme nicht überdecken. Ein überwältigendes Mahnmal erzählt uns, daß diese Toten unschuldige Opfer eines barbarischen Terrorismus wurden. Die wahren Opfer. Die Einzigen. Wer hier nicht solidarisch ist, bedingungslos, der ist wohl Terrorist, ein Kind des Bösen, ein Ork, den man ohne Nachdenken erschlägt und vergißt.

In Hiroshima schwindet die Radioaktivität, gesunde Kinder werden geboren. In Korea und Vietnam wird wieder Reis angebaut. Der Regenwald in Vietnam grünt wieder, mit noch stark vergifteten Früchten. Was sehen die satten Touristen der US-Kreuzfahrten auf ihren kurzen Landgängen heute? Reismatte und Bambus-Schnitzerei, how much is it?

Was sähen sie, wenn dort in gleicher Beton-je-Opfer-Relation den Opfern der US-Interessen Mahnmale gebaut würden? Woher nähme die Menschheit all diesen Beton, all den Platz? Die Überlebenden benötigen ihn, um dort Häuser und Schulen zu bauen. Sie träumen von einem friedlichen Leben und versuchen, sich der Reste ihrer zertretenen Kulturen zu erinnern.

Ich versuche, um all diese Toten zu trauern, die ich kaum ermessen kann. Sie liegen zertreten unter der großen Kriechspur des Raubens, das, bis auf einen Tag, in New York nur verwaltet wurde. Dieses eine, betonmächtige Mahnmal liegt in dieser Stadt vermutlich gerade deshalb am richtigen Platz, um für all diese namenlosen Opfer zu mahnen.

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New York liegt mir fern. Andernfalls würde ich dort jeden Monat einen Kranz ablegen. Für die Koreaner und Vietnamesen. Für die Bürger Hiroshimas, Nagasakis, Bagdads, Pakistans, Afghanistans, für die Nordamerikaner, von den US-Siedlern ausgerottet... auch für die New Yorker Opfer, die ein schmerzblinder David mit seiner Steinschleuder traf.

Trauen Sie sich, es mir gleich zu tun, wenn Sie dort vorbei kommen.

Eine Blume, ein Zettel, 'M Lai'.