Lothar Köster, 6. März 2022

irgendwie simpel&sicher

Respekt

Irgendwann tauchten auf der letzten Seite unserer Tageszeitung Bilder von Kinderschlangen vor Buchhandlungen auf. Weit abseits des Faschingfensters trugen sie Zauberkostüme und schwangen bunte Stäbe in den Händen. Wir wurden auf Joanne K. Rowling aufmerksam, als sie mit dem zweiten Harry-Potter-Band bereits erhebliche Wellen schlug. Für Kinder wird viel krudes Zeug geschrieben, aber als wir die ersten Seiten von Band Eins gelesen hatten, waren wir mit gewisser vornehmer Zurückhaltung begeistert. Ein Meisterwerk der Erzähl- und Imaginationskunst tat sich uns auf. Wir standen nicht Schlange, aber wir lasen alle Bände, zum Teil im Original, begierig und genüßlich. Man muß Frau Rowling für diese literarische Leistung hohen Respekt zollen. Die Begeisterung der Kinder war durchweg verständlich.

Fanatismus

Später begegnete ich einer Variante dieser Begeisterung, die mir sehr unverständlich, ja befremdlich und darum bedenkenswert erschien.

Frau Rowling hatte sich, mit Humor und vornehmer Zurückhaltung, zu einigen Verrenkungen einzelner Genderideologen geäußert. Wir schmunzelten. Dann begegnete mir die Äußerung einer vermutlich Jugendlichen in einem 'Forum': (sinngemäß) 'Ich war ein totaler Fan von K.J.Rowling, aber nach diesen Äußerungen werde ich nie wieder Harry Potter lesen.'

Ich mußte das erst gedanklich wiederkäuen, bevor ich die beiden Vorgänge verstand, die allzu sehr von meiner Lebenspraxis abwichen:

• Das ganze einst gelesene Potter-Werk wurde innerlich den Flammen übergeben, weil sie mit einer Meinungsäußerung der Autorin nicht einverstanden war.

Die Jugendliche konnte offensichtlich nicht zwischen einem Erzählwerk und einer davon unabhängigen Meinungsäußerung unterscheiden. Ein Ganzes wurde verworfen, das zu trennen sie nicht in der Lage schien. (Rowling ist hier ein zufälliges, aber typisches Opfer.)

• Die jugendliche Leserin war nicht auf der Suche nach guter Literatur oder anregenden Standpunkten. Vielmehr hatte sie die vakante Position ihres Idols zu besetzen: Das alleinige Vorbild für alle Lebensfragen, das unangefochtene und widerspruchsfreie Konstrukt des 'Mensch Gut'. Ein 'Fan' also, ein Anhänger in fanatischem Ernst; eine Bedürftige auf der Suche nach dem geistigen und moralischen Hafen.

Ein junger Mensch, der nicht in die Stürme der Dramen oder in die offene See der Kontroversen hinausstrebt, sondern schon zu Beginn seines Lebens, zur Zeit wildester Kräfte und größter Offenheit, allein in der Stille des Hafens, im Stillstand der Sicherheiten sein Glück sucht. Wo ist der Führer, der mir stets vorangeht? Wo sind die drei einfachen Lebensregeln, mit denen ich immer gut tue?

Ein Mensch voll Angst und Schwäche? Ja!

Ein Einzel- oder Sonderfall? Nein!

Das Paradoxon der Knechtschaft

Alle ambitionierten Revolutionäre unserer wirren Geschichte waren dieser Illusion erlegen: Das die Masse der Menschen im Elend der Knechtschaft nur geweckt und kurz aufgeklärt werden müßten, um, in Erkenntnis ihrer Lage, dem Spuk der Ungerechtigkeit sofort ein Ende zu bereiten. Letztes Gefecht und Straßenfest.

Die Ersten Vorsitzenden, Erbpräsidenten, Zaren aber waren und sind hier instinktiv realistischer. Sie bieten Schlichtheit und Sicherheit im Tausch gegen Vollmachten. Wenn aber die Mieten, die Brotpreise und die Flußpegel steigen, lassen sich die Kaninchen nicht die Bücher zur Revision zeigen, sondern ziehen sich tiefer in die Kissen ihrer Sofas zurück und geben den Führern ohne Zögern immer mehr Vollmachten. Wenn sie dann aus dem brennenden Haus flüchten, verfluchen sie kurz ihre alten Führer, ergeben sich aber sofort einem neuen und wollen nichts gewußt haben.

Gewissermaßen haben sie wirklich nichts verstanden. Die Schreie in der Nacht und die Leichen auf der Straße haben sie nur überzeugt, ihrem Führer noch mehr zu vertrauen.

Am Ende blicken wir auf entsetzliche Vorgänge. In Demmin begehen nach der Kapitulation 1945 hunderte Familien-Selbstmord, weil sie die letzten Führer-Ansprachen nur wörtlich nehmen konnten. Die Deportierten im GULAG glauben bis zuletzt an einen Irrtum von 'Väterchen Stalin' und schreiben ihm Briefe, bis sie an die Grube geführt werden. Die prekären Arbeiter, ewig am Rande der Verelendung, bejubeln ihre Xi Jinpings, Trumps, Putins, wenn diese ihr Reich, in dem jene nur Knechte sind, wieder zu Macht und Größe bringen wollen und im Wahn der unkontrollierten Macht mit dem Globus tanzen. Der Knecht will einen starken Herrn.

Warum werden aus so vielen Menschen Kaninchen?

Ich denke, die empörte Jugendliche hat es uns demonstriert. Sie zertrümmert ihren Rowling-Hausaltar, weil ihr Idol ungehemmt eine ihrer wenigen Gut-Böse-Regeln mißachtet hat, noch dazu mit Argumenten und Ironie. Sie folgt jetzt lieber dem Konsens der einfachen Klarheit als einer unkalkulierbaren Debatte. Das Entscheidungsmuster 'Simpel und Sicher' wird sie ab jetzt an jeder Weg-Gabelung anwenden; Endstadtion Sofa oder Luftschutzkeller.

Ist das verwerflich, böse? Nein, es sei den Schwachen und Ängstlichen ausdrücklich zugestanden. Wir würden sie gerne schützend in unsere Mitte nehmen. Aber in einer Millionengesellschaft mit Fremdherrschaftstradition geraten sie zum Nährboden und Schutzschild der Ausbeuter und Diktatoren, in Krisenzeiten zu einer irrationalen Naturgewalt.

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Wer also gegen die Verbrecherstrukturen des Kapitalismus und gegen die ständig aufkeimenden Diktaturen ankämpfen will, muß den Intelligenten und Mutigen Veränderung und mehr Freiheiten verschaffen, den Ängstlichen aber: Einfache Regeln und stets einen Rockzipfel für die Sicherheit!