Lothar Köster,  7. November 2021

irgendwie Tradition

Wenn man ungewöhnlich durch die Lande reist, ist man schnell der Clown. Eine vorteilhafte Rolle, die man unbedingt annehmen sollte. Man reizt die Phantasie, man weckt Fernweh, man bricht die Schranken des Alltags auf und kommt mit jedem ins Gespräch.

Wir reisten mit einem 'Interrail'-Ticket durch Nordskandinavien, im Schlamm-Monat Oktober, der Null-Saison. Im Reich der Einsamkeiten fuhr uns ein leerer Zug durch endlose Wälder. Wir sprangen von Fensterplatz zu Fensterplatz, um Rentiere und Elche zu erspähen. Dann erschien ein Mann in einer dezenten, aber nordisch schicken Uniform und bat, gleich in englisch, um die Tickets.

Fremden Autoritäten gegenüber ist der Reisende stets unsicher. Wie sind die Sitten, Regeln, Empfindlichkeiten? Wer kennt schon die formalen Randbedingungen einer unter Sprachmühen erstandenen Fahrkarte. Also übergaben wir brav die Karte mit dem angetackerten, handgeschriebenen Reiseplan.

Der Mann nahm die Zettel, runzelte die Stirn und ging mit ihnen schweigend zum nächsten Fenster, um sich diese bei rechtem Lichte zu betrachten. Je länger er still und unbeweglich las, umso unsicherer wurden wir. Er las lange.

Dann drehte er sich plötzlich wieder zu uns, mit einem dezenten Lächeln im Gesicht. "INTERRAIL!" Er kannte den Fall, hatte ihn aber noch nicht in der Hand gehabt und deshalb genüßlich studiert. Zeit war hier und heute kein Problem. "Berlin?" Er ahnte, welche schönen Strecken wir noch vor uns hatten, und war beeindruckt. Er wünschte uns eine schöne Reise.

Ein Problem gab es dann doch, weil in der gesamten, recht modernen Kleinbahn die Kaffee-Automaten ausgefallen waren. Ein Techniker mit einem Karton neuer Pappbechern stand ratlos davor. Ich muß wohl sehr leidend und blutleer ausgesehen haben. Nach dem nächsten Halt im kargen Hochland ging er mit demselben Pappkarton durch den Zug und verteilte frischen Mobilkaffee an alle Reisenden, wortlos und kostenlos. Guten, starken Kaffee! We love Norway!

In mehreren Tagesreisen ging es südwärts, zuletzt bei Sturmregen auf einer bewegungslosen Fähre über die Ostsee, hinter uns Erinnerungen an wortkage, praktische, hilfsbereite und überwältigend freundliche Menschen, deren Heimaten dunkel, eisig, stürmisch und karg sind.

Ein letzte Zug fuhr uns von Hamburg nach Berlin, völlig überfüllt mit drängelnden Platzkartenkämpfern. Unter bedrohlich überladenen Gepäckablagen versuchten wir, uns an den Orkan auf dem sonnigen Nordkap zu erinnern. Ein junger Schaffner erschien, und wir reichten stolz unsere Interrail-Karten mit der respektablen Fernreisenliste an.

Wieder zeigte sich ein Lächeln, er blickte auf und sah uns freundlich ins Gesicht: "Eigentlich ist diese Karte gar nicht gültig! Sie haben Ihre Verbindungen nicht eingetragen!"

Willkommen in Deutschland!

Die schmale Standardkarte enthielt eine winzige Zeile für Verbindungsdaten. Der Programmierer hatte sofort verstanden, daß dies nicht praktikabel ist, und die Karte wurde mit einem A4-Blatt vertackert, auf dem sich komfortabel dokumentieren ließ, was man Schönes erfahren hatte. Deshalb blieb die Zeile oben natürlich leer.

Ein junger Schaffner, von der DB Räuber-AG in überfüllten Zügen verheizt, trifft auf entspannte Nordland-Reisende mit exotischer Fahrkarte. Weshalb muß dieser Mensch so verzweifelt nach einem Anlaß suchen, Macht auszuüben, zu drohen? Kann er nur so seine Uniform füllen? Wie ängstlich muß er sein, daß ihn schon abweichende Fahrkarten provozieren? Was tut dieser Mensch, wenn man eine andere Herkunft, Hautfarbe oder Nasenform hat?

Die hochmodernen Finnen, Norweger und Schweden stammen von Welthandel treibenden Wickingern und fernreisenden Outdoor-Samen ab, stets freie Menschen in gewaltiger Natur. Der deutsche Angestellte stammt aus den Hütten der Leibeigenen, seit hundert Generationen Knecht unter provinziellen Kleinfürsten.

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Untertanen können nicht so mit den Freien...